Prolog
Erinnern heißt Verändern, Verändern heißt Erinnern!
- auch in Duisburg!
Am frühen Morgen des 20. Februar 2020 kochte Cema einen Tee, während ihr Kind Seydo - wie jeden Morgen - in der kalten Dunkelheit des Februars viel zu spät aufwachte und sich Hals über Kopf anzog, um einigermaßen pünktlich in der Schule zu sein.
Seydo mochte die Schule nicht allzu gerne, aber seine Freund:innen waren dort und vor allem gab es die verheißungsvolle Aussicht auf das Ende der Schulzeit. Diese Aussicht auf das Leben danach war einfach zu verlockend. Denn dann wollte er sich ganz seinen Träumen und dem ›echten Leben‹ widmen – reisen, eine Ausbildung beginnen oder studieren, und ganz viel Musik machen.
Als Cema gegen 6.30 Uhr die Küche lüftete, stand sie kurz auf dem Balkon. Der Geruch von verbranntem Holz lag in der Luft. Ihr Nachbar auf der anderen Straßenseite hatte den Holzofen wieder angemacht.
Hochfeld August 2020, Foto: Ceren Türkmen
Als Cema an diesem Morgen auf die Straße trat, schlug ihr eiskalter Wind ins Gesicht. Eine Schneestimmung lag zwar seit Tagen in der Luft, dennoch schneite es nicht, weil sich das typische nasskalte Wetter in Duisburg am Ende doch durchgesetzt hatte. Wie an jedem Morgen blickte sie auf den imposanten grün beleuchteten Stadtwerketurm in Duisburg-Hochfeld. Der ehemalige Schornstein aus Stahlbeton wurde zwischen 1966 und 1967 für das Heizkraftwerk in Hochfeld gebaut. Inmitten der dicht besiedelten Nachbarschaft ragte der 200 Meter hohe Turm wie ein Gigant empor.
Cema wuchs in den 1980er Jahren in der Nähe des Turms auf. Damals blinkte der Schornstein aus Stahlbeton nur mit einem roten Licht an der Turmspitze, aber gerade dieses Licht beruhigte sie. Er gab der melancholischen Kohle- und Stahlstadt die Sicherheit, dass alles in Ordnung war.
1955 – 1990
Glühend heißer Stahl
Seit den 1950er arbeiteten in den Stahlhütten und im Bergbau des Ruhrgebiets viele ungelernte und angelernte Arbeitsmigranten, sogenannte Gastarbeiter. In den Stahlhütten gossen und walzten sie glühend heißen Stahl in Schichtarbeit vor ihren Körpern. Die drei großen Stahlproduzenten der 1980er Jahre in Duisburg, Mannesmann, Thyssen und Krupp, entwickelten sich aus einer Vielzahl von Vorgängerunternehmen, die sich - im Zuge der industriellen Revolution - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entlang des Rheins ansiedelten. Sowohl der Rhein als auch die Ruhr boten sich der Industrie als geeignete Wasserstraße für den Transport von Eisenerz und Kohle an. Die Konzentration und der schnelle Ausbau der Schwerindustrie in Duisburg konnte nur durch die Anwerbung von Arbeitsmigrant:innen aufrechterhalten werden.1
Stahl schmilzt bei einer Temperatur von 1370 Grad Celsius, beginnt aber schon bei 500 Grad Celsius seine Stabilität und Tragfähigkeit zu verlieren.2 Viele männliche Arbeitsmigranten waren in Duisburg in den 1980er Jahren Stahlkocher und kannten diesen Schmelzpunkt.
Auch Cemas Vater.
Nicht nur in dem Wohnhaus von Cema und Seydo, sondern in der ganzen Stadt lebten in den 1980er Jahren Arbeitsmigrant:innen, die vornehmlich aus der Türkei, Italien, Spanien, Griechenland, Polen und aus vielen weiteren Ländern nach Duisburg migriert waren.3
Foto 1: Neue Ruhr Zeitung, 15.07.1980. Stadtarchiv Duisburg, ZAS 519/1-8., Foto 2: Rheinische Post, 9.08.1980. Stadtarchiv Duisburg, ZAS 519/1-8., Foto 3: Neue Ruhr Zeitung, 3.11.1980. Stadtarchiv Duisburg, ZAS 519/1-8., Foto 4: Mitteilungs-Vorlage des Sozialausschusses des Rates der Stadt Duisburg vom 22.01.1980. Stadtarchiv Duisburg, 100A/40/8., Foto 5: Stabsstelle für Wahlen und Informationslogistik der Stadt Duisburg: Einwohner nach ausgewählter Staatsangehörigkeit. 1975-2022.
Umgangssprachlich nannte man die Wohnsiedlungen, in denen ausschließlich Arbeitsmigrant:innen wohnten, „Türkensiedlung“
und dabei war es egal, ob wirklich Migrant:innen aus der Türkei dort lebten oder ob die Menschen aus Italien, dem ehemaligen Jugoslawien, Tunesien oder dem Libanon kamen. Sie alle wohnten einfach in einer ›Türkensiedlung‹. Cema und ihre Freund:innen wussten, dass sich die Bezeichnung weniger auf eine genaue nationale Herkunft bezog, als vielmehr darauf, dass sie alle Migrantinnen und ihre Familien vorwiegend Arbeiterfamilien oder Geflüchtete ohne deutsche Staatsbürgerschaft waren. Die Bezeichnung war vor allem eine rassistisch-stigmatisierende Beleidung und sie machte den Ausschluss von migrantisierten Menschen in der Gesellschaft deutlich. Genauso empfanden es Cema und ihre Freund:innen nämlich auch, wenn im Fernsehen oder der Zeitung von „Türkensiedlungen“ oder „Türkenkindern“, „Griechenkindern“ und „Italienerkindern“ gesprochen wurde.4 Diese diskriminierende Sprache sagte aber auch aus, dass Migrantinnen und Migranten als solche ungleiche Bürgerrechte hatten, ein „gesellschaftliches Problem“ darstellten, nicht gleichberechtigt waren und nicht „dazugehörten“. Nur ein imaginierter „Rand der Gesellschaft“ stand ihnen als sogenannte „Fremde“ und „Ausländer“ kulturell, sozial und räumlich zur Verfügung.5 All das kam über die Sprache auch bei den betroffenen Menschen an, was vor allem die Bewohner:innen in den Arbeiter:innensiedlungen wütend machte.
How does it feel to be a problem?
– fragte W.E.B. Du Bois 1903 in den USA in Anbetracht des Rassismus, der die Gesellschaft in den USA tiefgehend beeinflusste. Diese Frage stellen sich Cema und viele andere Menschen, die Rassismus erfahren, bis heute:
Mai-Demonstration 1978, © Copyright: Tayfun Demir, Stadtarchiv Duisburg.
Wie fühlt es sich an, ein Problem zu sein?
40 Jahre später, wurden Stadtteile wie Marxloh oder Hochfeld als migrantische ›No-Go-Areas‹ gebrandmarkt. Immer wenn Cema die Berichte über ›No-Go-Areas‹ hörte, stieg in ihr dieses Unwohlsein auf, das sie schon als Kind fühlte.
Foto 1: © Copyright: Tayfun Demir, Stadtarchiv Duisburg, Foto 2: © Copyright: Tayfun Demir, Stadtarchiv Duisburg, ZAS 519/1-8., Foto 3: späte 1970er, frühe 1980er Jahre. © Copyright: Tayfun Demir, Stadtarchiv Duisburg, Foto4: Kinder vor der Stadtteilbibliothek in Marxloh auf einem Straßenfest, 1979. © Copyright: Tayfun Demir, Stadtarchiv Duisburg.
Das war Rassismus
Die Kälte blieb, aber der Schnee kam nicht. Weder in Duisburg noch woanders in Almanya. Wäre dieser 20. Februar 2020 ein Tag wie jeder andere gewesen, hätte Cema um 7 Uhr ein kleines, schnelles Frühstück für ihr Kind am Küchentisch vorbereitet, das Seydo fast im Gehen verschlungen hätte, bevor er aus der Tür gerannt wäre, um die Stufen im Treppenhaus in Windeseile herunter zu flitzen.
Aber der 20.2.2020 war kein Tag wie jeder andere. Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete ein rassistischer Rechtsterrorist neun junge Hanauer:innen.
Als die Eilmeldungen im Küchenradio ertönte, standen Cema und Seydo lange schweigend Mitten in der Küche. Geschockt lehnte sich Cema an die Balkontür, während sich Seydo auf den Küchentisch stützte. So oder ähnlich sah es wohl in vielen Küchen in Almanya aus, Cemas und Seydos Schock war Teil eines kollektiven Traumas.
Früh morgens um 7:00 Uhr konnten sie nur eine leise Ahnung davon haben, was in der Nacht zuvor in Hanau passiert war und was in den nächsten Jahren in Almanya passieren würde.
Im hessischen Hanau ist es an zwei Orten zu einer heftigen Schießerei mit Toten gekommen. Es ist wohl in beiden Fällen jeweils eine Shisha-Bar im Mittelpunkt. Shisha, das sind diese Wasserpfeifen, die gerade bei jungen Leuten in den Städten sehr in sind, auch in der Rapszene, die das pflegt. Eine Shisha-Bar in der Hanauer Innenstadt an einem zentralen Platz und dann im Stadtteil Kesselstadt. Wie genau das abgelaufen ist, ist noch nicht klar.
Selbst wenn die Meldungen zu diesem Zeitpunkt noch vage waren, stand das Entsetzen in Cemas Gesicht, ihre weitgeöffneten Augen und schwarzen Pupillen blickten in die Trauer und Wut, die von Hanau ausgehen werden, und nur einen Tag nach dem Attentat schon in deutlicher Hörweite waren.
Gemeint sind wir alle
Cema kannte diese Sorge und Angst, Gewalt zu erfahren, weil sie nicht in das Menschenbild von rassistischen, rechtspopulistischen und rechtsterroristischen Menschen passte. Sie wusste, dass der Täter auch sie und so viele andere gemeint hatte, dass dieser Mord auch eine Botschaft und eine ganz konkrete Drohung war. Denn rassistische Gewalt und Terroranschläge sind Botschaftstaten.6
Foto 1: © Familie Satır, ca. 1982. Bildnachweis: Familien Satır und Turhan / DOMiD-Archiv, Köln, Foto 2: Erste Gedenkveranstaltung an den Brandanschlag von 1984, 2019, Foto: Initiative Duisburg 1984, Foto 3: Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte in Hünxe und Duisburg, NRZ, 25.09.1991. Stadtarchiv Duisburg, ZAS 519/1-8.
Rassistische Botschaftstaten
In der Stille erinnerte sie sich an den Brandanschlag 1984 in Duisburg, an die „Baseballschlägerjahre“ nach dem Mauerfall mit den Brandanschlägen auf Geflüchteten- und Migrant:innenunterkünfte Anfang der 1990er Jahre. Sie erinnerte sich an das rechts-terroristische Täternetzwerk des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in den 2000er Jahren, an den antisemitisch-rassistischen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle, der nur wenige Monate zuvor an Yom Kippur verübt wurde. Vor allem erinnerte sie sich an ihre Angst, die nur fünf Tage zuvor durch die Aufdeckung einer rechten Terrorzelle, der sogenannten Gruppe S. entfacht wurde.
Cema hörte den Nachrichten an diesem Morgen zu, während die Worte nicht in ihrem Kopf verfingen. Wie die meisten migrantisierten Menschen in Almanya kannte sie die akute Gefahr von rechten Anschlägen und Gewalt genau. Dennoch war sie schockiert, weil die Befürchtungen schließlich wahr wurden.
Foto 1: Rassistische Schmierereien und neonazistische Propaganda im öffentlichen Stadtraum in Duisburg, 1980er Jahre, Foto: Aus Fotosammlung der VVN Duisburg. Heute im Besitz des Zentrums für Erinnerungskultur, Foto 2: Rassistische Schmierereien und neonazistische Propaganda im öffentlichen Stadtraum in Duisburg, 1980er Jahre, Foto: Aus Fotosammlung der VVN Duisburg. Heute im Besitz des Zentrums für Erinnerungskultur, Foto 3: Mein Freund ist Türke, Protestaktion gegen Rassismus des Künstlers Manfred Spies, Ruhrgebiet 1982. © Copyright: www.friedensbilder.de.
So viele junge Menschen wurden aus dem Leben gerissen, weil sie nicht in das Weltbild eines Rassisten passten! Wann wären sie und ihre eigene Familie an der Reihe? Wer würde sie schützen? Warum wurde die Gewalt nicht verhindert?
Say their names
Cema bemerkte im Laufe des Vormittags den Schock, der mit jeder Meldung in den Medien bei ihrem Kind zunahm. Wie viele andere Kinder und Jugendliche ging er an diesem Tag nicht in die Schule. Er traf sich später mit Freund:innen.
Über Social Media erfuhren Cema und Seydo von der Manhnwache, die im Gedenken an die Opfer in Hanau spontan vor dem Forum, der Shopping-Mall in der Innenstadt in Duisburg, organisiert wurde. Um genau 18 Uhr waren sie wie viele andere Duisburger:innen dort. Wie in weiteren 50 Städten begann auch in Duisburg die Kundgebung mit einer Trauerminute für die Opfer.
Plakat zum Gedenken an die Opfer des Anschlags vom 19.02.2020 am Duisburger Hauptbahnhof. Foto: Ceren Türkmen.
Über die offizielle Presse waren die Namen der neun Opfer am Abend des 20. Februar 2020 noch nicht bekannt. Dank einiger Social Media-Accounts von Aktivist:innen aus Hanau konnten die Demoteilnehmer:innen dennoch schon alle neun Namen zusammenführen und laut in Sprechchören ausrufen:
Said Nesar Hashemi, Hamza Kenan Kurtović, Ferhat Unvar, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Gökhan Gültekin, Vili Viorel Păun, Mercedes Kierpacz und Kaloyan Velkov
An die Namen der Opfer des Brandanschlags 1984 auf das Wohnhaus in Duisburg-Wanheimerort, in dem ausschließlich Migrant:innen wohnten, erinnerten sich 35 Jahre lang – bis zur Gründung der „Initiative Duisburg 1984“ – nur die Angehörigen, Überlebenden des Anschlags der Familien Satır und Turhan sowie migrantisierte Zeitzeug:innen. Die Erinnerung an die Verstorbenen und den Brandanschlag führte für die Angehörigen, für die Betroffenen und für viele Duisburger:innen ein Schattendasein, da der Brandanschlag in der Öffentlichkeit nicht konsequent aufgeklärt wurde. Die Frage blieb immer offen: Gab es ein politisches und somit rassistisches Motiv und warum sind die Behörden dem nicht konkret nachgegangen? Die Untersuchung eines rassistischen Motivs, der Wunsch nach einer würdigen Erinnerungskultur in Zusammenarbeit mit den Überlebenden und Angehörigen in der Stadtgesellschaft und die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus in der Stadt sind heute zentrale Arbeitsfelder der Initiative.
Ferdane Satır, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Songül Satır, Ümit Satır, Çiğdem Satır und Tarık Turhan
Nach der Wiedervereinigung gab es weitere Brandanschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten und Todesopfer rechter Gewalt in Duisburg. Der Duisburger Şahin Çalışır starb am 27. Dezember 1992 auf der Autobahn 52 bei Meerbusch. Çalışır fuhr nachts mit zwei Freunden zurück nach Duisburg, als sie von zwei Neonazis aus Solingen auf der Autobahn als Migranten identifiziert wurden und eine Verfolgungsjagd begann. Das Auto schlug in eine Leitplanke ein. Die jungen Männer ergriffen die Flucht aus dem Auto und versuchten sich zu retten, als Şahin Çalışır auf der Autobahn von einem herannahenden Auto erfasst und getötet wurde.7
Şahin Çalışır
Cema erinnerte sich auch an den Mord an Egon Effertz, der am 17. März 1999 von drei Neonazis zuerst gejagt und dann brutal zu Tode geprügelt wurde. Ein Mahnmal für Egon Effertz steht heute im Franz-Lenze-Park in Duisburg-Walsum.
Egon Effertz
Ihre Erinnerungen reichten sehr viel weiter zurück. Sie wusste, Rassismus als Ideologie der Ungleichwertigkeit kommt immer im Plural. Sie wusste, dass es viele Rassismen gibt und unterschiedliche Gruppen betroffen sind. Ja, sogar, dass selbst von Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus betroffene Gruppen ebenfalls Rassismus produzieren konnten. Und doch entstand eine neue rassistische Ideologie nicht kontextlos, sondern auch Rassismus war gebunden an historische Kontinuitäten. In Deutschland war es der Antisemitismus, der Antiziganismus und der Kolonialismus.
Sie erinnerte sich an die Verfolgung und Deportation von Jüd:innen8, Sinti:zze und Roma:nja9. Sie wusste, der Antisemitismus und Antiziganismus in der Gegenwart Duisburgs können nicht ohne die Aufarbeitung des Antisemitismus und Antiziganismus in der NS-Zeit verstanden werden oder ohne eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus.
Am 20. Februar 2020 griff auf der Kundgebung in der Innenstadt eine stille Trauerstimmung um sich. Viele vorbeilaufende Menschen blieben spontan stehen und schwiegen gemeinsam mit den anwesenden Trauernden. Es schien, als sei dieser Tag dunkler als andere. Der abnehmende Mond leuchtete nur zurückhaltend am Himmel, so als wollte er sich vor den grellen Lichtern der „goldenen Leiter“, dem Wahrzeichen des Einkaufszentrums, das 65 Meter als Kunstinstallation in den Himmel ragt, zurückziehen.
Sie waren von hier
In Hanau hatte sich der angreifende Rechtsterrorist eine Shisha-Bar als Ziel gegen Menschen mit „ausländischen Wurzeln“ und „Fremde“ ausgesucht, wie es in den Medien hieß. Auch Seydo traf seine Freund:innen in Shisha-Bars. Er wurde zwar vor 16 Jahren in Duisburg geboren und war „von hier“, dennoch wurde ihm heute wieder deutlich, dass er nicht nur von rechtsextremen und rassistischen Täter:innen, sondern auch von Medien, Politik, Polizei und weiten Teilen der Gesellschaft als „Fremder“ gesehen wurde.
Erschlagen, in Trauer, aufgewühlt und wütend kam Seydo von der Kundgebung nach Hause und vertraute sich mit seinen Gedanken und Ängsten Cema an. „Wie konnte das geschehen? Das ist nicht der erste. rechte Terroranschlag! Warum kann man diese Gewalt nicht verhindern? Wer sind die Nächsten? Wir sind von hier! Sie können nicht von Fremden oder Fremdenfeindlichkeit sprechen. Was hat das mit mir oder Onkel Alis Shisha-Café zu tun?“.
Es war für viele ein aufwühlender und triggernder Tag. Doch Seydo und vielen anderen Menschen wurde an diesem Tag auch klar, dass sie nicht über den Täter reden sollten, sondern an die Opfer, ihre Namen und Lebensgeschichten erinnern, den Angehörigen zuhören und von den Politiker:innen volle Aufklärung und politische Konsequenzen fordern mussten.
Geschichte schreiben
An diesem Abend begegneten sich Cema und Seydo auf eine neue Weise. Die Mutter blickte besorgt zu ihrem Kind, das sich müde, aufgelöst und auch ängstlich zur ihr aufs Sofa setzte. Cema sah die Überforderung und Angst in seinen Augen, auch wenn er sich dieser noch nicht bewusst war.
Cema sucht nach Antworten
Sie erzählte ihm, dass sie Anfang der 1990er Jahre während der sogenannten „Baseballschlägerjahre“ in seinem Alter schon mal massive Angst und Unsicherheit erleben musste und wie sie damals Demos organisiert hatten. Hanau, Halle und der NSU waren nicht vom Himmel gefallen.
Demonstration am 20. Januar 1996 in Duisburg nach dem rassistischen Brandanschlag in Lübeck. Stadtarchiv Duisburg, Bestand: Büro gegen Rassismus e.V.
Diese Attentate waren keine Einzelfälle. Je länger Cema erzählte, desto mehr Fälle fielen ihr ein und desto klarer wurde ihr, dass die Fälle aus den 1980ern bis zum Attentat in Hanau in einem Zusammenhang standen.
Einerseits hatte es mit der Kontinuität rechter Gewalt und der inkonsequenten Entnazifizierung zu tun. Andererseits hat es aber auch mit der Kontinuität von Rassismus zu tun. Diese beginnt bei den alltäglichen – scheinbar unfassbaren – Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung, den Abwertungen, Beleidigungen, Ausgrenzungen und Drohungen, die auch Seydo zur Genüge kannte.
Seydo wollte immer mehr über die Kindheit seiner Mutter in Duisburg wissen, über die Großeltern und ihrer schwere Arbeit, , über den Alltag, aber auch über die berühmten Streiks in den Stahlhütten, die großen Hochzeitspartys oder Grillfeste in den Höfen der Zechenhäuser, und vor allem interessierte er sich für die Musik, die die „Gastarbeiter:innen“ gehört und gemacht hatten. Seydo kannte noch nicht einmal die Namen der beliebten Stars von damals.
Auftritt der Band Derdiyoklar 1983 in Duisburg, © Copyright: Serkan Şanlı.
Aber warum? Weshalb waren ihm diese Musiker:innen so unbekannt? Warum war er weder irgendwo in der Stadt, in der Schule, noch im Fernsehen mit der Geschichte und den Lebenserfahrungen von Migrant:innen oder von Rassismus betroffenen Menschen in Berührung gekommen? Warum lernte er nichts über die kolonialen Verflechtungen der Stadt, die Anwerbezeit von Arbeitsmigrant:innen, die „Baseballschlägerjahre“, den Rechtsterrorismus der 2000er Jahre? Cema hingegen konnte sich an diese Zeit noch gut erinnern. Sie hatte Dokumente, Fotos, Briefe und viele weitere Materialien. Viele lagen im Keller, in irgendwelchen Kisten vergraben. Doch auch bei ihr tauchten immer wieder blinde Flecken in der Erinnerung auf und sie fragte sich, ob es nicht auch vielen anderen Migrant:innen aus der zweiten Generation so ging, die in den 70ern und 80ern geboren wurden. Warum gab es in den Schulen, den Medien und der Politik diese große Amnesie? Warum lag die eigene Geschichte im gesellschaftlichen Schattendasein? Warum gab es keinen Ort für diese Erinnerungen? Im Laufe des Abends wiederholte Cema immer wieder, wie wichtig es sei, sich zu erinnern und, dass sich nur etwas ändern könne, wenn wir uns erinnern.
Am nächsten Morgen, nachdem Seydo sich auf den Weg in die Schule gemacht hatte, ging Cema ihre alten Dokumente, Fotos und Tagebücher durch. Sie wollte Antworten auf Seydos Fragen finden. Sie sendete ihren Freund:innen von früher Nachrichten über die Sozialen Medien und begann Termine zu vereinbaren mit Bekannten, Kolleg:innen und den Nachbar:innen ihrer Eltern. Jetzt ging es los! Gemeinsam schrieben sie eine „Andere Geschichte“!
1
Eine detailreiche historische Übersicht über die Migrationsprozesse während der Urbanisierung im Ruhrgebiet bietet James H. Jackson (1997): Migration and Urbanization in the Ruhr Valley: 1821-1914, Press International: Boston, Leiden, Cologne. Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Duisburger Industrie ist bis heute nicht vorhanden. Es fehlt ebenso eine umfassende Geschichte des Bergbaus in Duisburg. Die Entwicklung bis 1962 findet sich in der Studie von Manfred Schulz (1977): Die Entwicklung Duisburgs und der mit ihm vereinigten Gemeinden bis zum Jahre 1962 (Duisburger Forschungen, Band 24/25), Duisburg.
2
Mehr Informationen zu den chemischen Eigenschaften von Stahl: www.blancke-edelstahltechnik.de/der-schmelzpunkt-von-edelstahl/ (zuletzt abgerufen am 25.07.2023).
3
Vgl. Stabsstelle für Wahlen und Informationslogistik der Stadt Duisburg: „Einwohner nach ausgewählter Staatsangehörigkeit. 1975-2022.“
4
Folgende ausgewählte Schlagzeilen aus den regionalen und lokalen Zeitungen veranschaulichen die diskriminierende Bezeichnungspraxis und Bildsprache in den bürgerlichen Medien in den 1980er Jahren in der „alten Bundesrepublik“. Deutlich wird, dass die Bezeichnungen zum „normalen Sprachgebrauch“ gehörten: Immer mehr Türkenkinder in Schulen. Wende wird 1986 erwartet, in: Neue Ruhr Zeitung, 15.07.1980; Wohin mit den Türkenkindern? Ohne Anmeldung in Grund- und Hauptschulen. 70 neue Lehrer traten ihren Dienst nicht an., in: Rheinische Post, 9.08.1980; Eine Familie kann nicht Fuß fassen. Türkenfilm in Duisburg, Neue Ruhr Zeitung, 3.11.1980; Türkenkinder im ‚Land der Träume‘. Duisburg zeigt 150 Bilder, in: Neue Ruhr Zeitung, 6.01.1982. Auch in der politisch-öffentlichen Diskussion zwischen Verwaltung, Politik und Sozialverbänden wurden rassifizierende und diskriminierende Begriffe im üblichen Sprachgebrauch verwendet. So z.B. In einer Mitteilungsvorlage im Sozialausschuss des Rats der Stadt Duisburg vom 4.02.1980. Hier sprechen sie von „Z-Familien“.
5
Der Soziologe und Historiker W.E.B. du Bois beschreibt während der Frühphase der Bürgerrechtsbewegung in den USA in seinem Buch „The Souls of Black Folk“ die sozialpsychologischen Funktionen des strukturellen Rassismus auf Schwarze US-Amerikaner:innen nach der Abschaffung der Sklaverei durch Segregation, Gewalt und strukturelle Ungleichheit in den USA ein. Hierin geht er auch auf die Darstellung von Schwarzen US-Amerikaner:innen, die kollektiv als „Problem“ imaginiert werden. Anschaulich und provokativ sagt er in dem ersten Kapitel „Of Our Spiritual Strivings“: "How does it feel to be a problem?". Er antwortet: “Between me and the other world there is ever an unasked question: unasked by some through feelings of delicacy; by others through the difficulty of rightly framing it. All, nevertheless, flutter round it. They approach me in a half-hesitant sort of way, eye me curiously or compassionately, and then instead of saying directly, How does it feel to be a problem? they say, I know an excellent colored man in my town; or, I fought at Mechanicsville; or, Do not these Southern outrages make your blood boil? At these I smile, or am interested, or reduce the boiling to a simmer, as the occasion may require. To the real question, How does it feel to be a problem? I answer seldom a word.“ W.E.B. du Bois: The Souls of Black Folk. (Erstveröffentlichung 1903). Auch die sogenannte „Ausländerforschung“ wurde besonders in den 1950er Jahren als Problemlagenforschung und Brennpunktthema unter dem dominierenden Diskurs der Integrationspolitik dominiert. Unter der Perspektive wurden rassifizierte und migrantisierte Gruppen als „defizitäre und kriminalisierte Objekte“ dargestellt und weniger struktureller-gesellschaftlicher Rassismus ergründet. Vergleiche kritisch zum Integrationsdiskurs folgende Bücher: Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hrsg.) (2015): No Integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld: transcript; Veronika Kourabas (2021): Die Anderen ge-brauchen. Eine rassismustheoretische Analyse von ‚Gastarbeit‘ im migrationsgesellschaftlichen Deutschland, Bielefeld: transcript.
6
Vgl. Heike Kleffner/Ceren Türkmen (2020): Solidarisch & Professionell: Zwei Jahrzehnte unabhängige Beratung für Betroffene rechter, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt, in: Kirmes, Michaela/ Barwinski, Rosmarie: TRAUMA. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendungen. Heft 1/2020: Schwerpunktthema: Opfer rechter Gewalt, Kröning: Asanger Verlag.
7
Mehr Informationen zu Şahin Çalışır, Egon Effertz und weiteren Todesopfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt finden sich in der ausführlichen Liste der Amadeu Antonio Stiftung. Die AAS entwickelte die Liste auf Basis von Medienberichten, Monitoring durch unabhängige Opferberatungsstellen, Rechercheergebnissen von investigativen Journalist:innen und Gedenkinitiativen. Die AAS beklagt die Diskrepanz zwischen der Anerkennung von Todesopfern rechter Gewalt durch staatliche Stellen, die 113 Tötungsdelikte seit dem Wendejahr 1990 zählen, und ihren eigenen Ergebnissen, die seit 1990 219 Todesopfer und 16 weitere Verdachtsfällt zählen.
8
Siehe zur Verfolgung der Duisburger Jüd:innen das historische Basiswerk von Günter von Roden (1986): Geschichte der Duisburger Juden, 2. Bände, Duisburg: Braun. Auf diesem Werk aufbauend ist außerdem auf den Ausstellungsband „Noch viele Jahre lang hab ich nachts von Duisburg geträumt: Jüdisches Leben in Duisburg von 1918 bis 1945.“ aus dem Jahr 2015 aufmerksam zu machen.
9
Vgl. zur Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit folgende Dokumentation: Die Verfolgung der Duisburger Sinti in der NS-Zeit. Einführung, Biografien & Graphic Novel. Ergänzungen zur Ausstellung des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma ´Rassendiagnose: Z-Wort`: der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung (2020). Online verfügbar: https://www.erinnerungskultur-duisburg.de/wp-content/uploads/2022/11/S_R_Duisburg_Broschu_re_Webversion.pdf (zuletzt abgerufen 01.08.2023).
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