Episode 1

Von Rassismus wurde nicht gesprochen!1

In der Nacht vom 26. auf den 27. August 1984 brannte das Wohnhaus in der Wanheimer Straße 301 in Duisburg-Wanheimerort. In dem Altbau wohnten ausschließlich Arbeitsmigrant:innen, sogenannte Gastarbeiter:innen, aus der Türkei und Jugoslawien mit ihren Familien 

Das Feuer war kurz vor Mitternacht im Hausflur des Erdgeschosses ausgebrochen. In Windeseile verbreite es sich im ganzen Haus. Die Bewohner:innen waren vom einzigen Fluchtweg innerhalb weniger Minuten abgeschnitten. 57 Hausbewohner:innen wurden von den Flammen im Schlaf überrascht und versuchten zum Teil auf dramatische Weise, dem Feuer zu entkommen.

Im 2. Obergeschoss des Hauses wohnte Familie Satır.  Die Schwestern Rukiye und Aynur Satır konnten sich - wie durch ein Wunder – schwerverletzt mit einem Sprung aus dem Fenster retten. Für sieben ihrer Angehörigen kam jede Hilfe zu spät.

 

 
In Gedenken an
Ein junges Paar – Ferdane und Ramazan Satır. Sie schauen in die Kamera und halten ihre Hände. Er trägt ein Hemd mit einem breiten Kragen, sie ein geblümtes Kleid und ein weißes Kopftuch.

Ferdane & Ramazan Satır

Ein Brautpaar – Rasim, Zeliha & Tarık Turhan – in Anzug und weißem Hochzeitskleid steht im Flur einer Altbauwohnung.

Zeliha, Rasim & Tarık Turhan

Die siebenjährige Çiğdem Satır, mit kariertem Hemd, Pullunder und Kette steht auf einem Hof in Duisburg und schaut mit einem verwegenen Lächeln in die Kamera. Im Hintergrund sind Wohnhäuser, einige Birken und eine Plakatwand zu erkennen.

Çiğdem Satır

Der fünfjährige Ümit Satır steht in einem blauen Pullover Satır auf einem Hof in Duisburg und schaut mit einem etwas schüchternen Lächeln in die Kamera. Im Hintergrund sind Wohnhäuser, einige Birken und eine Plakatwand zu erkennen.

Ümit Satır

Die vierjährige Songül Satır steht vor einer Plakatwand in einem Hof in Duisburg und schaut mit einem breiten Lächeln in die Kamera.

Songül Satır

 

 

Familienleben, Träume und die neue Heimat in Duisburg

Ramazan und Ferdane Satır heirateten 1961 in Ceyhan bei Adana in der Türkei. Als sie sich kennenlernten, lebten beide in sehr einfachen Verhältnissen mit ihren Familien auf dem Land in zwei nahegelegenen Dörfern. Ihre Familien besaßen nur sehr wenig Land. Daher halfen Frauen und Kinder in den Familien auch bei der Feld- und Hausarbeit mit, und die Männer arbeiteten gelegentlich als Tagelöhner, um Geld zu verdienen, oder zogen in die nächstgelegene Stadt, um sich dort als Fabrikarbeiter zu versuchen.

Ein einfaches Bauernhaus, vor dem ein Anhänger steht.

Elternhaus von Ramazan Satır in Köprülü Köy. Foto Suat Akkuş

Ramazan und Ferdanes Familien kannten sich. Daher hatten sie auch bei Familienbesuchen immer die Gelegenheit, sich zu sehen. Sie verliebten sich. Klammheimlich machte Ramazan Ferdane einen Heiratsantrag. Ihre Tochter Aynur erinnert sich, wie verliebt ihre Eltern waren und wie gut sie miteinander sprechen, verhandeln und diskutieren konnten. Insgesamt aber hatte Aynur den Eindruck, dass ihre Mutter das Sagen hatte. Sie war sehr diszipliniert, bedacht und konnte gut vorausschauend planen.

 
Ferdane und Remziye Satır mit Angehörigen auf einem Teppich vor einem Haus.
Auf der Rückseite des Fotos ist eine Handschriftliche Notiz:

Foto 1: Ferdane und Remziye Satır mit Angehörigen, März 1968. Foto: Aynur Satır Akça, Stadtarchiv Duisburg.; Foto 2: Rückseite des Fotos. Übersetzung: Lieber Ramazan, behalte dieses Foto als Erinnerung. Dimli Gök (Bruder von Ferdane Satır)

 

 
Zeitzeug:innen

Remziye Satır Akkuş erinnert sich an die Ankunft und die ersten Jahre in Duisburg.

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Remziye Satır Akkuş erinnert sich an die Ankunft und die ersten Jahre in Duisburg.

 

Nach ihrer Heirat und der Geburt der ersten Kinder zogen Ramazan und Ferdane 1968 nach Adana, der nächstgelegenen Großstadt, weil Ramazan dort Arbeit bei Paktaş, einer Firma, die Baumwollsamenöl produzierte, gefunden hatte. Es war eine sehr harte Arbeit bei sehr niedrigem Lohn. Als dann sein Bruder als Arbeitsmigrant nach Paris emigrierte, packte ihn der Mut und die Hoffnung auf ein besseres Leben ohne Prekarität in Deutschland. 1973 kurz vor dem Ende des Anwerbeabkommens von Arbeitsmigrant:innen in Deutschland, stellte Ramazan den Antrag auf eine Arbeitserlaubnis. Er kam 1973 in Hannover an, fand dann Arbeit in einem Steinbruch in Koblenz. Er musste die schwere Arbeit dort aber aus gesundheitlichen Gründen beenden. Den nächsten Arbeitsplatz fand er in Duisburg. Im Thyssen-Werk in Hochfeld arbeitete er zuerst in der Produktion, und dann als Reinigungskraft. Ferdane und die Kinder blieben in der Türkei zurück und zogen zur Familie aufs Dorf. Ramazan arbeitete viel und wohnte im Ledigenheim für Arbeitsmigranten. Seine Familie sah er nur einmal im Jahr in den Sommerferien. Er schickte ihr aber oft Polaroid-Fotos mit kleinen liebevollen Nachrichten auf der Rückseite. Bei Familienbesuchen war sein Koffer voller Geschenke für die Kinder. 1976 entschieden Ferdane und Ramazan sich für die Familienzusammenführung und ein neues gemeinsames Leben in Duisburg. Ramazan hatte für seine Familie eine 3-Zimmer-Wohnung in der Wanheimer Straße 301 gefunden.

Im Vordergrund sitzt eine Frau mit ihren zwei jungen Töchter einer Schuldirektorin gegenüber. Sie sind im Gespräch. Im Hintergrund sieht man eine Familie, die am Flughafen ankommt. Die Umstehenden schauen skeptisch wegen der Kleidung der Familie.

 

 
Zeitzeug:innen

Aynur Satır Akça erinnert sich an die ersten Jahre in Duisburg und die Geburt ihrer Geschwister.

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Aynur Satır Akça erinnert sich an die ersten Jahre in Duisburg und die Geburt ihrer Geschwister.

 

Der Einzug in die Wohnung in der Wanheimer Straße 301 bedeutete der Familie viel. Sie führten ein einfaches, geselliges und glückliches Leben. Die Sommerferien und die mehrtägige Autofahrt auf der sogenannten „Gastarbeiterroute“nach Adana waren der Höhepunkt im Jahr.2 Die Familie Satır hörte leidenschaftlich gerne Musik auf der langen Reise, etwa Nena, Ibrahim Tatlıses, Neşet Ertaş und viele andere Musiker:innen.

Ein Mann mit Schnurbart geht barfuß durch einen Krankenhausflur und verteilt Blumen. In einem Ausschnitt sehen wir eine Mutter im Bett mit ihrem neugeborenen Sohn im Arm. Im Hintergrund die Freudestrahlende Krankenschwester, die aussieht wie Cema.

 

"Ich hätte sie niemals abreisen lassen dürfen!"

Der Brandanschlag am 26. August 1984

Nur zwei Wochen vor dem Brandanschlag besuchte Familie Satır ihre Tochter, Remziye Satır Akkuş, in Friedrichshafen. Remziye war nach der Heirat mit Suat Akkuş zur Familie ihres Ehemanns nach Süddeutschland gezogen.

 

 
Zeitzeug:innen

Suat Akkuş erinnert sich an seine ersten Jahre in Deutschland.

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Suat Akkuş erinnert sich an seine ersten Jahre in Deutschland.

 

Wir waren noch jung und hatten unser erstes Kind bekommen. Da war die Aufregung, aber auch Freude bei uns und in der gesamten Familie sehr groß.

Die Oma trägt den Enkel auf dem Arm, neben ihr steht der stolze Vater, der in die Kamera lächelt.

Suat Akkuş, Ferdane Satır mit Ümit Akkuş auf dem Arm. Bildnachweis: Familien Satır und Turhan / DOMiD-Archiv, Köln

Vier Tage vor dem Brandanschlag war die Familie wieder nach Duisburg zurückgekehrt. Eylem Satır, eine ihrer Töchter, wollte noch länger bei ihrer Schwester in Friedrichshafen bleiben. Sie fuhr nicht mit zurück. Remziye Satır Akkuş bedauert heute noch in jedem Gespräch über den Brandanschlag, dass sie ihre Familie damals abreisen ließ.

 

 
Traumadynamik

In einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Bedeutung von rechter und rassistischer Gewalt für Betroffene und Angehörige beschreibt die Soziologin Gesa Köbberling, dass sich Betroffene nach der Gewalterfahrung oft in eine belastende psychologische Traumadynamik verwickeln. Eine Mischung aus Ohnmacht, Schuld und Scham verursacht schwerwiegende und langjährige Folgen für Betroffene.3

 

 

 

Am Abend des 26. August 1984 hatte Familie Satır in Duisburg Besuch. Zeliha war mit ihrem Ehemann, Rasim, und ihrem 52 Tage alten Säugling vorbeigekommen. Es wurde spät, und die junge Familie wollte über Nacht bleiben. Ramazan Satır war nochmal in die Teestube ums Eck gegangen. Kurz nach Mitternacht rannte Izzet Güler, ein Nachbar und Freund von Ramazan Satır in die Teestube und schrie: „Dein Haus brennt!“

Als Ramazan am Haus ankam, konnte er nur noch hilflos mitansehen, wie seine Familie im Haus in den Flammen ums Überleben kämpfte. Die damals 13-jährige Aynur und die 15-jährige Rukiye trugen durch den Sprung aus dem 2. Stock schwerste Verletzungen davon. Aber sie überlebten - wie durch ein Wunder. Sie mussten beide für viele Monate ins Krankenhaus und wurden mehrfach operiert.

 

 
Zeitzeug:innen

Aynur Satır Akça berichtet von der Brandnacht.

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Aynur Satır Akça berichtet von der Brandnacht.

Solidarische Nachbarn bedroht: 

"Hört auf, den Ausländern zu helfen!"

 

Familie Embers betrieb nebenan eine Bäckerei. Ihre Tochter, Sabine, war eng mit Zeliha Satır, einer der Töchter der Familie Satır, befreundet. Die Kinder in der Nachbarschaft mochten den Bäckermeister besonders gern. Täglich strömte der Geruch frischer Backwaren durch die Straßen. Die Kinder waren neugierig und beobachteten Sabines Vater oft durch das Fenster, wie er die Brötchen und Brote formte und in den Ofen schob.

Der Bäcker steht in der Backstube bei der Arbeit. Durch das geöffnete Fenster hinter ihm schauen ihm Kinder zu.

Werner Embers in seiner Backstube, im Hintergrund die Kinder aus der Nachbarschaft, darunter Aynur und Zeliha Satır, Anfang 1980er Jahre. Foto: Sabine Embers.

 

Familie Embers war in der Brandnacht und auch in den Tagen danach eine große Hilfe. Die Familie war tief erschüttert. Vor allem Sabine war voller Trauer: Sie hatte Zeliha, ihre Freundin in den Flammen verloren. Es war auch Sabine, die in der Brandnacht die Feuerwehr rief. Doch an die Feuerwehr hat sie bis heute viele Fragen. Erschüttert und verängstigt war ihre Familie, als sie nach der Brandnacht wegen ihrer Solidarität mit ihren migrantischen Nachbar:innen wiederholt Drohanrufe mit rechten und rassistischen Beleidigungen bekamen. Sie erstatten Anzeige bei der Polizei ohne Ermittlungsergebnisse zu bekommen.

Audiodatei

Sabine Embers während einer Ortsbegehung an der Wanheimer Straße, Ecke Fischerstraße (Interview: Alexander Bauer und Chris Herzog am 24.08.2022)

 

Laut der WAZ vom 28. August 1984 teilten weitere Anwohner:innen diese Einschätzung.4 Im gleichen Artikel wurde Oberbranddirektor Dr. Bach zitiert. Er sagte zu den Vorwürfen, „daß für die Zusammenziehung der Kräfte in einem solch außergewöhnlichen Fall eine gewisse Zeitspanne notwendig sei. "Nur einen Tag später revidierte er seine Aussage gegenüber der BILD und sagte: „Unsere Leute waren fünf Minuten nach Alarmauslösung am Brandort. Andere Wehren kamen später – deshalb konnte ein falscher Eindruck entstehen.“ Doch die Frage, warum die Feuerwehr so spät kam, war eine der Fragen, die bis heute für die Betroffenen und Zeitzeug:innen nicht geklärt wurde und damals schon in der Stadtgesellschaft zu kontroversen Debatten führte. Der Zeitungsartikel macht noch auf eine weitere Beobachtung der Nachbar:innen aufmerksam. Demnach hätte die Polizei Rettungsversuche unterbunden. Der stellvertretende Polizeipräsident versprach gegenüber der Presse, diesen Vorwürfen nachzugehen. Und einen Tag später heißt es dazu: „Als die Wagen der Feuerwehr eintrafen, hatten die Beamten der Schutzpolizei allein die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Feuerwehr bei den Lösch- und Rettungsarbeiten nicht durch Passanten und Neugierige behindert wurde.“5

 
Ganzseitiger Zeitungsartikel mit Fotos des Hauses, der Familie Embers und Ministerpräsident Johannes Rau. Unter der Überschrift: Retter schleppten Leichen der Kinder die Treppen hinab.
Ganzseitiger Artikel mit einem großen Foto vom Haus nach dem Anschlag und mehreren Anwohner:innen und Überlebenden, u.a.
Artikel mit dem Titel: Ungeheurer Vorwurf: Ein Brandstifter nach dem Großbrand noch nicht bekannt. Bildunterschrift (optional): WAZ vom 29.08.1984. Quelle: DISS-Archiv Duisburg.
Artikel mit dem Titel: Staatsanwalt setzt Belohnung von 10000 DM aus.

Foto 1: WAZ vom 28.08.1984, Quelle: Sabine Embers, Foto 2: BILD vom 28.08.1984. Quelle: Sabine Embers, Foto 3: WAZ vom 29.08.1984. Quelle: DISS-Archiv Duisburg, Foto 4: WAZ vom 30.08.1984 + Rheinische Post vom 01.09.1984. Quelle: DISS-Archiv Duisburg.

Der Brandanschlag in der Presse

Gleichzeitig fuhren direkt nach dem Brandanschlag noch in der Nacht des 27. August zwei Journalist:innen, Lisa Trunk und Gerd Engel, nach Friedrichshafen, um Remziye und Suat Akkuş darüber zu informieren, was wenige Stunden zuvor in Duisburg geschehen war. Die Journalist:innen begleiteten Ramazan Satır auch zur Beerdigung der Opfer in die Türkei.

 

 
Zeitzeug:innen

Suat Akkuş erinnert sich, wie er vom Tod der Angehörigen erfahren hat.

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Suat Akkuş erinnert sich, wie er vom Tod der Angehörigen erfahren hat.

 

Am 6. September 1984 publizierten Trunk/Engel eine lange Fotoreportage über den Brandanschlag im Stern.6 In der Durchsicht deutschsprachiger Presseberichte zum Brandanschlag fällt auf, dass Trunk/Engel die einzigen Reporter waren, die mit den Betroffenen sprachen. Außerdem ist eine würdevolle Dokumentation der Opfer in ihrem mehrseitigen Bericht erkennbar. Nur in diesem deutschsprachigen Bericht werden die Namen der Opfer vollständig genannt.7 Die WAZ druckte am 29. September 1984 sogar einen Leserbrief ab, in dem das Wohnhaus stigmatisierend als „Türkenhaus“ bezeichnet wird. Das war kein Einzelfall in der Berichterstattung über den Brandanschlag. Martin Dietzsch, Sozialforscher vom Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung und Zeitzeuge, hat 2019 die Berichterstattung rassismuskritisch folgendermaßen analysiert:

Audiodatei

Martin Dietzsch auf der 1. Gedenkveranstaltung der Initiative Duisburg 1984, 31.08.1984.8

Acım büyüktur, tüm ailemi kavbettim, gurbet ellerinde başıma bu da mı gelecekti?“ (Mein Schmerz ist unbeschreiblich, ich habe meine ganze Familie verloren. Dass ich diesen Schmerz in der Fremde erlebe!)

Ramazan Satır gegenüber der Milliyet am 31. August 19849

Foto von einem Pass mit handschriftlichen Eintragungen.

Ramazan Satırs Pass und Quittung in Höhe von 50 DM für die Ausstellung eines neuen Passes zur Überführung der Verstorbenen in die Türkei.

Im Dorf in Köprülü Köy bei Ceyhan fand am 31. August 1984 die Beerdigung statt. Ramazan Satır musste dafür einen neuen Reisepass beim Türkischen Konsulat in Düsseldorf ausstellen lassen. Sämtliche Unterlagen wurden beim Brand zerstört.

 

Die Anteilnahme um die Opfer und Hinterbliebenen im Dorf war groß. Auch türkische Tageszeitungen waren anwesend. In der türkischen Tageszeitung „Cumhuriyet“ wurde am 1. September 1984 sogar beklagt, dass keine staatlichen oder städtischen Vertreter anwesend waren.10

Alleine gelassen

Nach der Beerdigung kehrte die Familie zurück nach Duisburg. Remziye Satır Akkuş zog nach dem Brandanschlag mit ihrer Familie sofort von Friedrichshafen nach Duisburg, um ihren Vater und ihre Geschwister zu unterstützen. Diese Zeit war für die Familie geprägt von Angst, Hilflosigkeit und hartem Überlebenskampf. Sie erhielten keinerlei soziale Unterstützung, hatten aber Schwerverletzte zu pflegen und ein Täter konnte nicht ermittelt werden. Der Brandanschlag geriet allmählich in Vergessenheit. Es gab keine Ermittlungsergebnisse und keinen Täter. Doch die Familien Satır und Turhan fragten sich fortwährend, warum sie ihre Angehörigen verlieren mussten. 

 

 
Zeitzeug:innen

Remziye Satır Akkuş erinnert sich an sehr schwere Zeiten.

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Remziye Satır Akkuş erinnert sich an sehr schwere Zeiten.

 

Am 29. August 1984 bedankt sich Ministerpräsident Johannes Rau in einem persönlichen Brief bei Familie Embers für ihren Einsatz in der Brandnacht – während Familie Satır mit ihrem Schmerz allein gelassen wurde und zu keinem Zeitpunkt von einem Vertreter der Stadt Duisburg besucht wurde.

Die Familienangehörigen waren überlastet; sie erhielten keinerlei psychologische Fachberatung und Begleitung.

Brief des Ministerpräsidenten Johannes Rau an Familie Embers, in dem er sich für die Hilfe während des Löscheinsatzes persönlich bedankt.

Dankesbrief des Ministerpräsidenten Rau an die Familie Embers, 29.08.1984. Familien Satır und Turhan / DOMiD-Archiv, Köln.

 

 
Zeitzeug:innen

Aynur Satır Akça erinnert sich an den Tod ihres Vaters.

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Aynur Satır Akça erinnert sich an den Tod ihres Vaters.

 

„Aber sie haben es vorsätzlich angesteckt!                                  
– Erste Spuren und Ambivalenzen in der polizeilichen Ermittlungspraxis

Warum brannte das Haus in der Wanheimer Straße 301, einer – so wie der WDR in einem Fernsehbericht vom 27. August 1984 berichtet – "schäbigen Straße". Dort hieß es weiter: „Wer in den schmucklosen Häusern lebt, für den ist Lebensqualität ein ferner Traum. Hier wohnen zum größten Teil Ausländer. Meistens Türken.“11

Am Morgen des 27. August begannen Brandsachverständige und Ermittler in den Trümmern Antworten zu suchen. War es ein Unfall? War es Brandstiftung? Die Ermittlungen wurden von Ambivalenzen begleitet.

Die Frankfurter Rundschau berichtete am 28. August 1984 nach Angaben des Staatsanwaltschafts in Duisburg, Gerd Schnittchen, dass über die Ursache des Feuers noch Unklarheit besteht, Brandstiftung jedoch „so gut wie sicher“ ausgeschlossen werden kann.12 Nur einen Tag später schon erschien wieder in der Frankfurter Rundschau ein Bericht, nach dem nun „Brandstiftung in Duisburg nicht mehr ausgeschlossen“ wurde. Am 28.8.1984 veröffentlichte die BILD-Zeitung einen weiteren ganzseitigen Bericht, in dem die Autoren im ersten Satz danach fragten, "Haben Attentäter kurz nach Mitternacht das dreistöckige Mietshaus in Duisburg angezündet?"13

Sehr schnell kam eine zweite Frage mit ins Spiel und sie begann damals, bis heute durch die Stadtgesellschaft zu geistern.

War es Rassismus?

Nahaufnahme von Ramazan

Still aus der Aktuellen Kamera vom 26.09.1984, WDR.

In der Aktuellen Stunde des WDR vom 26.09.198414 interviewten Journalisten Ramazan Satır im Hinterhof der alten abgebrannten Wohnung zur Frage, ob er denke, dass „Ausländerfeindlichkeit“ ein Motiv gewesen sei.

 

Reporter: Sie glauben nicht, dass Ausländerfeindlichkeit eine Rolle gespielt hat, bei dem Brand?                         

Cavit Türker (Freund der Familie, der übersetzt): Kann sein, aber wissen wir nicht. Wir denken so was nicht. Weil wir auch Menschen sind!                         

Ramazan: Ama kasitli yakmislardir (Aber sie haben es vorsätzlich angesteckt!)                         

Freund: Aber hat er gesagt, trotzdem einer hat Feuer gemacht.

Doch nicht nur in Deutschland, sondern auch in der türkischen Tagespresse und auch in migrantischen Selbstorganisationen in Deutschland wurde der Fall sehr genau beobachtet und dokumentiert. 

Schon am 30. August 1984 titelte die Cumhuriyet „Hakenkreuz-Spuren beim Brand in Duisburg“.

Türkischsprachige Meldung aus der Cumhuriyet vom 30.08.1984. Titel: Duisburg yangınında gamalı haç parmağı.

Cumhuriyet vom 30.08.1984. (Übersetzung)

Schon zwei Tage zuvor fragte der Express am 28. August 1984: „Steckt Rassenhass hinter dem Feuer, das sieben Türken getötet und 23 verletzt hat?“ Trunk/Engel schrieben in ihrer langen Reportage für den Stern vom 6. September 1984: „„Bis vor zwei Monaten waren an den Fabrikmauern längs der Wanheimer Straße noch Hetzparolen wie 'Türken Raus' zu lesen.“  Der Spiegel erwähnt in einem Bericht über rechte, rassistische Gewaltfälle und das Erstarken der Gewaltbereitschaft im Oktober 1984 ebenfalls die Hakenkreuze an der Hauseingangstür in Duisburg.15

Vom Alltagsrassismus zur Gewalt

Union und FDP hatten im November 1983 das „Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft“ verabschiedet. Das Gesetz war ein Versuch mit Geldprämien für Arbeiter:innen aus der Türkei, Tunesien, Marokko und Portugal die sogenannte „freiwillige Rückkehr“ zu forcieren. Union und FDP verabschiedeten das Gesetz vor dem Hintergrund einer Stimmung, die einem Abschottungsdrang vor Migrant*innen glich. Anfang der 1980er Jahre gründeten sich rassistische Bürgerinitiativen, die von NPD-Funktionären im Hintergrund getragen wurden. Ihr Ziel war es, ein Volksbegehren zu initiieren, um die Politik der Bonner Republik dazu zu bewegen, Arbeitsmigrant:innen in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken und die Grenzen zu schließen. Der Oberbürgermeister Duisburgs, Josef Krings, sagte zur gesellschaftlichen Hetze gegen Migrant:innen am 23. Januar 1982 der WAZ: „Faschismus und Rassismus sind im Revier vorhanden. Wenn sie noch stärker werden, wäre das verhängnisvoll. Rassismus ist das letzte, was wir hier brauchen.“16 Es überrascht, dass zwei Jahre später der gleiche Josef Krings nach dem Brandanschlag Rassismus als Tatmotiv von vornherein nicht in Erwägung zog; auch suchte er die Betroffenen damals nicht auf, um ihnen sein Beileid zu bekunden oder soziale Unterstützung anzubieten.

Jenseits der Spitze des Eisbergs, die gekennzeichnet ist durch rechte, rassistische und antisemitische Gewalt, haben Migrant:innen auch im Alltag, auf der Arbeit und in den Institutionen, Rassismus, Ausgrenzung und Diskriminierung erfahren.

 
WAZ Beitrag über die Tagung der Oberbürgermeister des Ruhrgebiets zu Rassismus.
 Bürger:innen setzen 1982 ein Zeichen für Demokratie und Solidarität, indem sie eine Woche lang die Zentrale der NÜD-Bürgerinitative „Ausländerstopp“ in Wattenscheid besetzen. Die Quelle zeigt das Cover des vorläufigen Berichts.

Foto 1: WAZ, 23.01.1982. Stadtarchiv Duisburg, Bestand 1004/1, Foto 2: Stadtarchiv Duisburg, Bestand 1004/1

 

 

 
Zeitzeug:innen

Suat Akkuş erinnert sich an seine ersten Jahre in Deutschland.

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Suat Akkuş erinnert sich an seine ersten Jahre in Deutschland.

 

Wie haben Migrant:innen auf diesen gesellschaftlichen Rassismus reagiert? Wie haben sie gelebt? Zum einen haben sie sich selbst organisiert und begannen, antirassistische zivilgesellschaftliche Politik zu machen. Hier fällt auf, dass der Herbst 1984 eine Zeit war, in der Migrant:innen bundesweit und in Duisburg gegen „Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung“ protestierten. Kurz nach dem Brandanschlag fand am 11. Oktober 1984 auch in Duisburg der bundesweit organisierte „Marsch gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit“ statt. Die Demonstrant:innen protestierten gegen die Rückkehrpolitik und gegen „Ausländer Raus-Parolen“. Neben den zivilgesellschaftlichen Protesten zeigt ein Bericht der WAZ vom 15. November 1982, wie Migrant:innen mit Rassismus umgingen; hier wurde der Trend von freiwilligen Rückkehrern 1982 – deutlich bevor das Gesetz zur Förderung der freiwilligen Rückkehr verabschiedet wurde – auf eine wachsende „Fremdenfeindlichkeit“ und die steigende Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik zurückführt.17

Meldung in der WAZ: Doppelt so viele Türken fuhren in diesem Jahr in ihre Heimat. „Wegen Arbeitslosigkeit und Haß.“

WAZ, 15.11.1984. DISS-Archiv Duisburg.

Auch aus der Zivilgesellschaft in Duisburg wurden Stimmen laut, die als Motiv beim Brandanschlag auf Rassismus hinwiesen.

Audiodatei

Martin Dietzsch auf der 1. Gedenkveranstaltung der Inititiative Duisburg 1984, 31.08.1984.

In Grauen Heften von migrantischen Selbstorganisationen von 1984 findet man Dokumentationen aus türkisch- und deutschsprachigen Tageszeitungen über den Brandanschlag.18 In Duisburg meldete sich eine zivilgesellschaftliche Bürger:inneninitiative, die die Ermittlungsbehörden und Oberbürgermeister Krings öffentlich aufforderte, das Motiv „Ausländerfeindlichkeit“ zu überprüfen. Sie hätten in jüngster Zeit Bedrohungen von rechten Gruppen dokumentiert, Aufkleber mit „Ausländer-Raus“-Parolen und Hakenkreuz- Schmierereien an der Wand des abgebrannten Hauses gesichtet und es hätte konkrete Drohungen gegen Migrant:innen gegeben.19 „Eine bewusste Irreführung. Ich kratze keinen Rechtsradikalen aus dem Grab, den es nicht gibt,“ entgegnet ihnen Josef Krings wahrscheinlich auf Basis des Ermittlungsstands am 25. September 1984 in der WAZ. Die Rheinische Post schreibt nämlich schon am 28. August 1984: „Politische Hintergründe, die man nach den Besuchen von Ministerpräsident Rau und Innenminister Schnorr hätte vermuten können, wollte die Kripo hingegen ausschließen. Dafür, daß Ausländerhaß das Motiv für die Brandstiftung gewesen sei, gebe es ´keinerlei Anhaltspunkte`.“ Auch die dpa verkündet in ihre Meldung Nr. 131 vom 3. September 1984, dass die Staatsanwaltschaft mitgeteilt hat, dass es keine konkreten Anhaltspunkte auf mögliche Täter gebe. „Ausgeschlossen sei aber, dass der Brand aufgrund von Ausländerfeindlichkeit gelegt worden sei.“20

 
Meldung der türkischen Sozialberater der AWO an die Polizei wegen rassistischer Aufkleber und Bedrohungen.
Leserbrief in dem Bürgermeister und Ermittlungsbehörden aufgefordert werden, Hinweisen nach einem rassistischen Hintergrund der Tat nachzugehen.
Kurze Meldung mit Zitat des Oberbürgermeisters in der er Stellung zum offenen Brief vom 19.09.1984 bezieht.

Foto 1: Brief türkischer Sozialberater der AWO an die Polizei, 19.07.1984. DISS-Archiv Duisburg, Foto 2: Offener Brief an Oberbürgermeister Krings, Stadtanzeiger Duisburg, 19.09.1984. DISS-Archiv Duisburg, Foto 3: WAZ 25.09.1984. DISS-Archiv Duisburg.

Die Frage steht heute noch im Raum, wie es zu diesen Ambivalenzen in der Ermittlungspraxis kommen und so frühzeitig ein rassistisch-rechtes Motiv ausgeschlossen werden konnte. Ebenso steht die Frage im Raum, warum ein Bewohner des Wohnhauses 1991 in 6-monatige Untersuchungshaft kommt, weil er verdächtigt wird, den Brandanschlag 1984 gelegt zu haben. Damals lebte er ebenfalls im Haus in der Wanheimer Straße 301. 

Der Berliner Rechtsanwalt Lukas Bastisch arbeitete im Auftrag seiner Mandantin Aynur Satır Akça den Fall und die Ermittlungsarbeit juristisch auf. Nach umfangreicher Prüfung der Ermittlungsakten von Staatsanwaltschaft und Bundesamt für Verfassungsschutz kommt er zu folgender Einschätzung:

Die Ermittlungen zu dem Brandanschlag waren zunächst davon geprägt, dass ein rassistisches Motiv zu einem Zeitpunkt ausgeschlossen worden ist, als noch viele Motive denkbar waren. Gründe für einen Ausschluss lagen nicht vor. Tatsächlich haben die Ermittlungsbehörden den Täter für längerer Zeit ausschließlich im Umfeld ehemaliger Bewohner des Hauses gesucht. Auch das später in dieser Sache gefällte Urteil lässt eine eingehende Auseinandersetzung mit einer rassistischen Tatmotivation vermissen, obwohl es hierfür Anhaltspunkte gegeben hat. Das Ziel des Brandanschlags – ein Haus mit migrantischen Bewohner*innen in einem migrantischen Stadtteil – wurde als solches weder durch die Ermittlungsbehörden noch durch das Gericht erkannt.

Sowohl von den Überlebenden und Angehörigen als auch von den Duisburger migrantisierten Communities wurde diese frühzeitige Festlegung der Politik und der Ermittlungsbehörden als entwürdigend empfunden. Gleichzeitig hatte diese Ermittlungsrichtung Konsequenzen: Einige fühlten sich im Nachhinein verängstigt, Rassismus anzuklagen, und somit auch die Entscheidungen von Politik, Polizei und Staatsanwaltschaft in Frage zu stellen. 

Fast zehn Jahre später, am 22. Mai 1994, schrieb Evelin D. aus der Justizvollzugsanstalt in Mülheim einen handschriftlich formulierten Brief an die Polizei. Sie befand sich wegen kleinerer Brandstiftungen bereits in Untersuchungshaft.. In ihrem Brief kündigte sie ein Geständnis an. Wenige Tage später gestand sie gegenüber zwei Kommissaren, den Brandanschlag in der Wanheimer Straße 301 im Jahre 1984 und einen weiteren, ebenfalls nicht aufgeklärten Brandanschlag, am 14. Januar 1993 auf ein Geflüchtetenwohnheim in der Duisburger Straße in Duisburg-Hamborn. Wie durch ein Wunder starb niemand im Geflüchtetenwohnheim. Aber es gab Verletzte. Es kam zu einem Strafprozess gegen die Täterin, und das Landgericht Duisburg sprach im Dezember 1996 ein Urteil aus. Auch vor Gericht wurde das Thema „Rassismus“ nicht umfassend untersucht. Die Frage, warum die Täterin in Zeiten der Hochkonjunktur rassistischer Hetze und Gewalt gegen Migrant:innen, Unterkünfte von Menschen angegriffen hat, die von Rassismus, Ausgrenzung und Marginalisierung betroffen sind, blieb unbeantwortet.

Bei der Täterin wurde eine Pyromanie diagnostiziert. Sie wurde aufgrund eines forensischen Gutachtens verurteilt und in einer forensischen Psychiatrie untergebracht, wo sie später verstarb.                               
Der ehemalige (Integrations-)Dezernent und Politikwissenschaftler der Stadt Duisburg, Ralf Krumpholz, legt in seiner Analyse des Urteils von 199621 ein besonderes Augenmerk auf die Versäumnisse des Gerichts.

Es ist also nicht abwegig, auch die Tat von Evelin D. 1984 als Ausdruck gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bzw. ethnischen Rassismus' zu interpretieren. Dass das Landgericht der Einlassung der Angeklagten, dass sie „sich bei der spontan erfolgten Inbrandsetzung des Sessels keine Gedanken über mögliche Folgen ihres Handelns gemacht“ habe, im Wesentlichen folgt, und „die Annahme eines bedingten Tötungsvorsatzes bei Begehung dieser Tat verneint“, ist vor diesem Hintergrund nicht überzeugend, da es unbewusste und verdrängte Beweggründe nicht als möglich gelten lässt. […] Das Landgericht Duisburg sieht in dem ersten Brandanschlag lediglich eine besonders schwere Brandstiftung und erkennt darin keinen wesentlichen Unterschied zu den danach folgenden Sachbeschädigungen und Brandstiftungen. […] Allerdings kommt die Menschenfeindlichkeit hier nicht dadurch zum Ausdruck, dass der Tod von Bewohner:innen einer Unterkunft für Asylsuchende bewusst in Kauf genommen wird, sondern dass Evelin D. sich gar keine Gedanken über die Menschen in dem Haus an der Wanheimer Straße macht, sie es also gar nicht wert sind, beachtet zu werden, und so die Ausführung der Tat hemmend stören könnten. Auf der bewussten Ebene hat sich Evelin D. möglicherweise daher also tatsächlich keine „Gedanken gemacht“. Unbewusst wird es aber wohl anders ausgesehen haben.

 

„Jetzt werde ich sprechen, jetzt werde ich meine Geschichte öffentlich machen!“

Vier Frauen stehen nebeneinander und blicken alle in verschiedene Richtungen. Hinter ihnen ist ein Haus. Sie haben ernste bis traurige Gesichtsausdrücke.

Rukiye Satır, Remziye Satır Akkuş, Eylem Satır Özcan und Aynur Satır Akça vor dem Haus Wanheimer Straße 299. Foto: Jasper Kettner.22

Am 14. April 2019 haben die vier Schwestern Rukiye, Remziye, Eylem und Aynur mit dem Fotografen Jasper Kettner einen Fototermin für das Buchprojekt „Die Angehörigen“, gegenüber von dem Haus, in dem sie 35 Jahre zuvor sieben geliebte Angehörige verloren haben. Dieses Bild zeigt den Anfang eines schmerzvollen Weges, den die Schwestern in den kommenden Jahren gemeinsam gehen werden. Nach 35 Jahren können sie endlich öffentlich ihre Geschichte erzählen und ihre Angehörigen aus der Vergessenheit ins kollektive Gedächtnis rufen. Sie haben immer noch offene Fragen und Kritik, auch wenn die Justiz den Fall 1996 mit einem Urteil abgeschlossen hat. Durch die jahrzehntelange Leugnung eines möglichen rassistischen Motivs, ist es zu einer nachhaltigen sekundären Viktimisierungserfahrung gekommen.

 

 
Zeitzeug:innen

Bengü Kocatürk-Schuster beschreibt die Gründung der Initiative.

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Bengü Kocatürk-Schuster beschreibt die Gründung der Initiative.

 

Die Lücke einer rassismuskritischen Erzählung und die Perspektive der Betroffenen stehen seitdem im Zentrum der Arbeit der Initiative. 35 Jahre nach dem Brandanschlag fand das erste öffentliche Gedenken statt. Unter dem Titel „Zuhören organisieren“ kamen Betroffene und Angehörige rassistischer Gewalt aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen, um gemeinsam Familie Satır zuzuhören und sie in ihren Forderungen nach Anerkennung und Gerechtigkeit zu bestärken.

 

 
Zeitzeug:innen

Remziye Satır Akkuş erinnert sich an die erste Gedenkveranstaltung 2019 und die Solidarität und Verbundenheit mit anderen Betroffenen rechter Gewalt.

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Remziye Satır Akkuş erinnert sich an die erste Gedenkveranstaltung 2019 und die Solidarität und Verbundenheit mit anderen Betroffenen rechter Gewalt. 

 

Seitdem findet jährlich eine Gedenkveranstaltung statt. Die Initiative und die Familie Satır sind bundesweit vernetzt und zeigen sich solidarisch mit anderen Betroffenen rechter Gewalt. Die Betroffenen möchten nicht, dass ihre verstorbenen Angehörigen, ihre Namen und Geschichten, vergessen werden. 

2020 hat ein Arbeitskreis der Stadt Duisburg – bestehend aus Vertreter:innen des Rats und der Verwaltungs, sowie der Initiative und Familien – seine Arbeit aufgenommen, um das Gedenken an den Brandanschlag wach zu halten und in der Stadtgesellschaft zu verankern. Zum 39. Jahrestag, am 26.08.2023, wurde am Haus Wanheimer Straße 301 eine Gedenktafel angebracht. 

 

 
Zeitzeug:innen

Aynur Satır Akça spricht zu den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau, am 20.02.2020 auf der Kundgebung in Hanau. Video: Initiative Duisburg 1984.

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Aynur Satır Akça spricht zu den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau, am 20.02.2020 auf der Kundgebung in Hanau. Video: Initiative Duisburg 1984.

 

Das Ringen um eine andere „Wahrheit“ braucht einen Platz und hat Existenzrecht. Deshalb ist der Raum der Erzählung dieser Geschichten ein Ort des „Anderen Duisburg“. 

Die Fälle Duisburg 1984 und Duisburg 1993 werden strafrechtlich nicht wieder aufgerollt werden können.Gemeinsam mit den Familienmitgliedern hat die Initiative Duisburg 1984 aber die Perspektive auf die Fälle umdie zivilgesellschaftliche Wahrheitssuche undAufklärungsarbeit sowie eine Gedenkpolitik erweitert(vgl. Didier Fassin 2020) – und zwar dissonant. Die Erinnerungsarbeit der Familie Satır und der Initiative hat dazu beigetragen, dass rassistischer Gewalt in den1980er Jahren in den Fokus gerückt ist.23

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    Die Betroffenen des Brandanschlags 1984 beklagen in vielen aktuellen Interviews: „Damals wurde nicht von Rassismus gesprochen!“ So etwa in den Interviews für diese Webdokumentation bei Aynur Satır Akça und Remziye Satır Akkuş oder wie bei Rukiye Satır in einem Interview, das sie 2019 dem Deutschlandfunkkultur gab (online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/rassismus-als-moegliches-motiv-initiative-moechte-100.html. Zuletzt abgerufen: 20.07.2023)

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    Damit war die Autobahnroute gemeint, die Nordeuropa mit einigen Herkunftsstaaten der angeworbenen Arbeitsmigrant:innen in Süd-Ost-Europa verband. Türkeistämmige Migrant:innen nannten die Autobahnstrecke auch „sıla yolu“  (dt. Heimatweg) oder „E-5 Ölüm Yolu“ (dt. Europastraße - 5 Todesstrecke) wegen der vielen Unfälle auf den schlecht ausgebauten Straßen, die jeden Sommer unter Migrant:innen und ihre Angehörigen für Angst sorgten. Heute ist die Route für Geflüchtete eine der wichtigsten Migrationsrouten. Vom Osten nach Europa betrachtet, stellt sie die sogenannte „West-Balkanroute“ dar. Der „Heimatweg“ auf der Autobahnstrecke ist derweil Gegenstand vielfacher wissenschaftlicher und künstlerisch-experimenteller Arbeiten geworden, in denen die Strecke vor allem als kultureller Transitraum betrachtet wird. Siehe hierzu vor allem die digitale Dokumentation der Ausstellung von Can Sungu und Malve Lippmann aus dem Jahr 2017 vom interdisziplinären Berliner Projektraum „bi’bak“ (Türkisch: Schau mal). Online zugänglich: http://silayolu.bi-bak.de/de/das-projekt/ (zuletzt abgerufen: 18.08.2023). Es wurden auch mehrere Filme über die Strecke gedreht. Siehe hierzu vor allem den Film von Tuncel Kurtiz, einem bekannten türkeistämmigen Schauspieler und Regisseur, der in den 1970er Jahren im politischen Exil in Schweden lebte und einen Kurzfilm über die Route drehte.

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    Siehe hierzu vor allem das 9. Kapitel „Die subjektive Bedeutung der Gewalt“ (S. 243 ff.) aus dem Buch von Gesa Köbberling (2018). Beratung von Opfern rechter und rassistischer Gewalt. Bielefeld: transcript-Verlag

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    WAZ vom 28.08.1984.

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    WAZ vom 30.8.1984.

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    Lisa Trunk/Gerd Engel (1984): Die Tragödie der Familie Satır, in: Stern, 06.09.1984, S.20.

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    Im Zuge der zivilgesellschaftlichen Erinnerungspolitiken seit 2011 fordern migrantisierte Menschen vor allem, dass die Namen der Opfer nicht ignoriert und unsichtbar gemacht werden, sondern würdevoll genannt und erinnert werden sollen. Sie streben damit auch der Täter:innen-Fokussierung entgegen und setzen ihr eine würdevolle Erinnerungskultur, die an die Lebensgeschichten der Opfer erinnert entgegen. Der Hashtag #saytheirnames ist im Zuge dieser Auseinandersetzungen global viral geworden.

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    Die in dem Beitrag erwähnte Sammlung ist eine Presseberichtsammlung über den Brandanschlag, die das DISS seit 1984 archiviert hat. Martin Dietzsch hat der Initiative Duisburg 1984 dies Sammlung für Recherchezwecke übergeben.

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    Milliyet vom 31. August 1984.

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    Bild: „Sieben Tote: Das Haus brannte wie eine Fackel“. Der Presseausschnitt ist undatiert. Quellenkritisch betrachtet muss es Publikation 27./ 28. August 1984 gewesen sein.

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    Cumhuriyet vom 01.09.1984.

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    Fernsehbericht des WDR zum Brandanschlag.

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    Frankfurter Rundschau: „Die Brandopfer gehörten alle zu einer Familie.“ 28.08.1984.

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    Danke an Helena Kaufmann, die die Recherche dieses Beitrags an das Projekt Ein Anderes Duisburg weitergeleitet hat.

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    Der Bericht im Spiegel „Unser Traum“ vom 15.10.1984 zählt eine Reihe von Gewaltfällen auf, darunter der Brandanschlag in Duisburg 1984, um das Ausmaß der rechten, rassistischen und antisemitischen Gefahr zu verdeutlichen.

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    WAZ (1982): OB-Runde warnt vor der Türkenhass im Revier. Gesetze gegen ungehemmten Asylantenzuzug gefordert. 23. 01.1982.

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    Die Neue Ruhr Zeitung und WAZ berichteten am 11.10.1984 von der Demonstration in Duisburg.

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    Etwa im Türkei-Infodienst, dem Infoblatt der Föderation der türkischen progressiven Arbeitervereine, FIDEF.

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    Der „Offener Brief der Ruhrorter Initiative“, den E. Pater mitunterzeichnet hat, wurde im Stadtanzeiger am 19.09.1984 veröffentlicht. 

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    Dpa, Nr. 131: „Noch keine 'heiße' Spur nach Duisburger Brandkatastrophe.“ 03.09.1984.

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    Ralf Krumpholz (2023): Die Brandanschläge in Duisburg 1984 und 1993. Eine Analyse und Bewertung des Urteils des Landgerichts Duisburg vom 3.12.1996 im Hinblick auf einen sensiblen Umgang mit den Opfern. Bisher unveröffentlicht. Als damals zuständiger Dezernent hat sich Krumpholz aufgrund des vorliegenden Antrags im Integrationsrat mit dem Brandanschlag intensiver befasst, um dem Gremium einen begründeten Vorschlag zum weiteren Vorgehen zu machen. Daraufhin ist dann ein entsprechender Prüfauftrag an die Verwaltung beschlossen worden. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der Stadt Duisburg hat er als Teil der Arbeitsgruppe "Gedenktafel Duisburg 1984" ehrenamtlich an dem Projekt weiter mitgearbeitet.

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    Veröffentlicht im Fotoband von Jasper Kettner/Ibrahim Arslan (2020).

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    Mehr Informationen zur Arbeit der Initiative Duisburg 1984 finden sich online: https://www.inidu84.de

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