Anforderungen
an einen digitalen und multidirektionalen Erinnerungs- und Archivraum in der Migrationsgesellschaft
Die Idee zu Ein Anderes Duisburg. Eine Webdokumentation über Rassismus, Migration und Solidarität ist in Auseinandersetzung und als Teil der neueren rassismuskritischen Erinnerungs- und Geschichtsbewegung entstanden . Sie ist der Duisburger Tiefenblick auf den Umbruch und eine Antwort auf die didaktischen Anforderungen innerhalb der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur, die Deutschlands Selbstverständnisses als Migrationsgesellschaft Rechnung trägt. Für einen digitalen Erinnerungs- und Archivraum, für eine neue Stadtgeschichte, ergeben sich deshalb besondere Herausforderungen:
- Die erste Herausforderung stellt die Notwendigkeit der Multidirektionalität in der Erzählung und Forschung dar. Dazu zählt vor allem, dass keine abgeschlossene Geschichten auf der Basis von kulturellen oder religiösen „Communities“ aus einzelnen Herkunftsländern erzählt werden; vielmehr entstehen Episodenthemen, die multidirektionale, teilweise auch ambivalente oder sogar widersprüchliche Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen von Duisburger:innen darstellen, die sich aber immer ergänzen. Die Multidirektionalität der Erzählungen schafft Raum für Sensibilisierung und Selbstreflexion im Kontext intersektionaler Macht- und Ungleichheitsverhältnisse (Rassismen, Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, Klassismus, Queer- und Transphobie) und erlaubt es, differenzierter auf diese im historischen Kontext zu schauen, um Lernprozesse für eine politisch-historische Demokratie- und Bildungsarbeit zu leisten.
- Die Webdokumentation sammelt , bewahrt und erzählt communityübergreifende und multidirektionale Geschichten von Migrations-, Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen in Duisburg. Dabei reflektiert sie in jeder einzelnen Episode die Frage, wie die unterschiedlichen Rassismen und Antisemitismen historisch konkret ausgesehen haben, bzw. soziologisch formuliert „gemacht wurden“ und wie sie sich strukturell, individuell und institutionell in der modernen Industriestadt an Rhein und Ruhr gezeigt haben und nach wie vor erkennbar sind. In gestalterisch abgesetzten Textbausteinen und im Glossar werden deshalb Begriffsdefinitionen, Hintergrundinformationen und ergänzende Literaturempfehlungen zur Verfügung gestellt. Als historisch-politisches Bildungsmaterial sensibilisiert die Webdokumentation und schließt mit interdisziplinären Ansätzen thematische Lücken. Die Anforderung für „Ein Anderes Duisburg“ ist es, als digitaler Erinnerungs- und Archivraum auch gleichzeitig, rassismus- und antisemitismuskritische, politisch-historische Bildungsarbeit zu leisten.
- Die Webdokumentation ist mutig. Denn sie arbeitet gemeinsam mit den Interviewpartner:innen Dissonanzen , also Unstimmigkeiten im Selbstverständnis Duisburgs als „solidarische Arbeiterstadt ohne Fremdenfeindlichkeit“ heraus. Stattdessen interveniert sie und schafft eine Basis für eine inklusiver Geschichte und Gegenwart der Stadtgesellschaft. Die Webdokumentation schaut genau hin und zeigt, an welchen Stellen Stereotype, Vorurteile oder rechtliche Ungleichstellung zu Rassismus geführt haben. Die Interviews sind eindringlich. Sie berichten von schwierigen Flucht- und Arbeitserfahrungen und schweren Traumata. Dennoch sind die einzelnen Geschichten voll von Solidarität und solidarischen Auseinandersetzungen für Demokratieentwicklungen und Gleichstellungsinitiativen. Auf Diskriminierungserfahrungen , gesellschaftlichen Ausschluss, ungleiche Rechte, fehlende Infrastruktur für das Ankommen in der neuen Heimat antworteten die Betroffenen in Duisburg mit Selbstorganisierungen und dem Auf- und Ausbau solidarischer Interessenvertretungen. Die Dissonanz zur dominierenden Geschichte der „solidarischen Stadt“ besteht in der Webdokumentation also nicht darin, dass die Erzählung der „unsolidarischen Stadt“ entwickelt wird: Vielmehr stellen wir die vielen intersektional umkämpften Momente in der Dynamik von Solidarisierung und Entsolidarisierung dar und arbeiten heraus, wie lokale politische Dynamiken auch in Beziehung standen mit transnationalen und globalen Ungerechtigkeiten.
- In unserer Webdokumentation arbeiten wir mit Oral-History-Interviews und rücken Lebensbiografien und -erfahrungen in den Mittelpunkt der Erzählung. Diese Perspektive erlaubt es auch, die von Rassismus betroffenen Duisburger:innen nicht als passive Statist:innen darzustellen. Sie sind Subjekte, die selbst „Geschichte“ mitgeschrieben haben. Wir rücken in dieser Dokumentation einerseits von einer täter:innenfokussierten Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und rechtsextremer Gewalt ab und wechseln zu einer Perspektive, in der die Betroffenen, ihre Namen, ihre Handlungen und ihre (Migrations-)Geschichten erinnert werden. Andererseits rücken wir auch von einer Perspektive ab, in der die Perspektiven der Dominanzgesellschaft dominiert haben.
Digitale Archivierung und Quellenerschließung
Die Dokumentation vereint Elemente von Archivarbeit, Oral-History-Interviews und Sammlungserweiterung durch weitere Quellenerschließung mit digitalen Instrumenten der historischen Bildungsvermittlung und audio-visuellem Storytelling. Die Quellensammlung speist sich aus neuen historischen Materialien, sowohl aus Privatbeständen von Duisburger:innen, als auch aus weiteren Archiven. Wir können davon ausgehen, dass sich noch viele weitere Quellen, Objekte und Materialien in privatem Besitz befinden. Die Hoffnung ist, noch zahlreiche Quellen im Laufe des Projekts zu erschließen. Mit der Webdokumentation bilden wir eine neue Archivsammlung, in der die Stadtgeschichte rassismuskritisch erzählt wird und rassismus- und antisemitismuskritische Perspektiven entwickelt werden.
Der in dieser Webdoku benutzte Archivbegriff deckt sich nicht mit dem modernen Archivbegriff der offiziellen Archive, somit auch nicht mit dem des Stadtarchivs Duisburg. Die Hauptaufgabe eines Archivs ist die sichere und langfristige Aufbewahrung und Überlieferung von historischen Quellen, mit der die Geschichte des Trägers, der Institution oder der Behörde für spätere Generationen und für die Forschung zur Verfügung gestellt werden kann. Zu den Aufgaben gehört es auch, dass eine Entscheidung über "überlieferungswerte" Akten getroffen wird, denn nicht jede ausgehändigte schriftliche und auch digitalisierte Akte kann „überliefert" werden, da auch das Archiv Grenzen hat. Unsere Webdokumentation hingegen dokumentiert und erzählt auf Basis wissenschaftlicher Forschungsmethoden und -fragen schon selbst eine Geschichte. Dennoch werden erhobene Quellen digitalisiert zur Verfügung gestellt, so dass sie Nutzer:innen unter Angabe der Signatur der Quelle frei für eigene Arbeitszwecke nutzen können. Die Digitalisierung von Quellen wiederum hat allgemein die Überlieferungspraxis archivarischer Arbeit vor neue Herausforderungen gestellt. In unserer Webdokumentation speichern wir die digitalisierten Dokumente auf einem Server und damit ist zu diesem Zeitpunkt die Frage der langfristigen und nachhaltigen Sicherung nicht geklärt.
Öffentliche Geschichte als Empowerment zur Selbstreflexion und Sensibilisierung
Die Quellen in der Doku sind für die Nutzer:innen frei verfügbar und anwendbar: „Ein Anderes Duisburg“ ist ein lebendiges Archiv. Ein Archiv, das nicht nur Stadtgeschichte und Erinnerungskultur mit Materialien, Quellen, Interviews, Fotos und Texten per Mausklick zur Verfügung stellt, sondern auch mit Illustrationen und Storytelling-Methoden arbeitet, lokal auf Bildungsveranstaltungen vermittelt und digital als Webdokumentation zur Verfügung steht. Mit diesem innovativen Projekt antwortet das Projektteam auf die neuen Perspektiven der digitalen Bildungsvermittlung. Quellen können in der Webdokumentation in großem Umfang zugänglich gemacht und Geschichten erzählt werden.
Oral- History-Interviews
Mit Oral-History-Interviews entstehen neue Quellen für die Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur. Videographische Erinnerungsinterviews erzählen eindringlich von persönlichen Migrations- und Rassismuserfahrungen, aber auch von solidarischen Kämpfen um Partizipation, gleiche Rechte und Demokratisierung. Die professionell von einem Filmteam geführten Erinnerungsinterviews sind das Herz der Doku und stellen die zentrale Quelle für die einzelnen Episoden dar. Sie rücken Menschen hautnah ins Bild, die ihre Geschichten in verschiedenen Sprachen erzählen. Zeitzeug:innen, die die ersten Anwerbejahrzehnte erlebten, haben bereits ein hohes Lebensalter erreicht, sodass “die Uhr tickt“, um ihre lebensbiografischen Zeugnisse noch rechtzeitig zu sammeln. Diese Zeitzeugnisse sind auch deshalb von hohem Wert, weil die Behörden in den 1950er und 1980er Jahren historisch relevantes Material kaum systematisch erfasst haben.
Die sensible Interview-, Dreh- und Schneidetechnik schützt die interviewten Personen. Worin besteht diese besondere Sensibilität? Die Oral-History-Interviews wurden über eine biografisch-narrative Gesprächsführung in standardisierten Settings in der DenkStätte des Zentrums für Erinnerungskultur in Duisburg gefilmt. Eine biografisch-narrative Gesprächsführung in einem Forschungsinterview zielt darauf ab, dass die interviewte Person in der Interkation mit der Interviewer:in einen offen Erzählraum erhält und keine Dialoge in der Interaktion stattfinden. Die interviewende Person hat im Voraus mit den Zeitzeug:innen ein Aufklärungsgespräch über Inhalt, Form und die Themenkomplexe geführt, das Einverständnis eingeholt und Organisatorischen besprochen. Für die Interviews wurden offen Leitfragen erstellt, um historische Ereignisse und die Erinnerungen der Interviewteilnehmenden zu befragen. Zuvor wurde auch besprochen, in welche Sprache die Interviews geführt werden sollen. Wir haben Interviews in diversen Sprachen geführt und somit auch mit Übersetzungen und Übersetzer:innen gearbeitet.
Quellen, die das Erfahrungswissen von Menschen sammeln, haben in ihrer historiographischen Bedeutung zugenommen. Diese Formen der Quellen liefern Zugang zur Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte. Dazu zählen Oral-History-Interviews, die Erfahrungswissen, subjektive Perspektiven und Erinnerungen, Wahrnehmungen und Handlungen, Interpretationen und persönliche Schicksale beinhalten. Aus rassismuskritischer Perspektive spielt diese Perspektive für die Webdokumentation eine besondere Rolle, da vergessene und bisher nicht öffentlich erinnerte Ereignisse und Betroffene von Rassismus als sprechende Akteur:innen von Bedeutung sind.
Im Anschluss an die durchschnittlich 2-stündigen Video-Interviews wurden kurze Filmclips für die Webdokumentation geschnitten, mit denen die Episoden maßgeblich auch inhaltlich strukturiert werden. Mit Hilfe von zeithistorischen Dokumenten, Texten und Analysen werden die jeweiligen Themen der Episode und die Film-Clips multimedial ergänzt. Es entsteht ein multimediales Archiv.
Quellenerhebung und Quellenkritik
Die Quellen, die wir erheben konnten, unterschieden sich von staatlichen und kommunalen Quellenbeständen. Zum einen stammen sie aus Sammlungen von migrantischen Selbstorganisationen oder von Duisburger:innen. Zu diesen Sammlungen gehören Sach- und Bildquellen. Etwa Zeitschriften, die unregelmäßig in Eigendruck in kleinen Auflagen mit geringen Mitteln produziert wurden. Hinzu kommen Flyer, Fotos, Notizen, Urkunden, Briefe, Reden, Gedichte, Bücher aus Eigendruck, Film- und Tonaufnahmen von Einzelpersonen. Diese Materialien stellen wichtige Ressourcen für Gegenerzählungen dar. Im Gegensatz dazu finden sich im Duisburger Stadtarchiv weitestgehend Quellen zur Migrationsgeschichte, die aus der städtischen Verwaltung und aus der Presse stammen. Verwaltungsunterlagen sind keine neutralen Zeugnisse. Ihnen ist eine bestimmte, behördliche Logik eingeschrieben. Hinzu kommt, dass das Archiv eine Auswahl vorgenommen und z. B. lange Zeit Ausländerakten gar nicht archiviert hat, weil man diesen Einzelfallakten keine Bedeutung für die städtische Geschichtsschreibung beigemessen hat. Wären diese älteren Einzelfallakten noch vorhanden, gäbe es einen belastbaren Fundus für eine umfassende und differenzierte Stadtgeschichte aus der Perspektive der Migration. Die Quellen von Menschen, die selber Rassismus erfahren haben und/oder eine Migrationsgeschichte haben, dokumentieren „migrantisch situiertes“ Erfahrungs- und Geschichtswissen. Sie erlauben es subjektives Wissen, Alltagsgeschichte und Bewegungsgeschichte differenziert zu dokumentieren.
Dennoch haben wir uns in dem Projekt darüberhinausgehend auch darum bemüht, vorhandenes themenrelevantes Material aus staatlichen und kommunalen Archiven zu erheben und zur Verfügung zu stellen. In der Regel sind rassismuskritische, dekoloniale und antifaschistische Sammlungen in staatlichen Archiven als benutzerfreundliche zentrale Sammlungsorte nicht vorhanden. Der NSU-Komplex hat außerdem gezeigt, dass Ämter
Akten und ihr Wissen der Öffentlichkeit nicht konsequent überliefern und qua § 6 Abs. 1 Bundesarchivgesetz selbst darüber entscheiden dürfen, ob kritische Akten überliefert werden oder nicht. Deshalb bemühen wir uns darum, dass relevante, vorhandene und nicht überlieferte Quellen aus dem Archiv der Staatsanwaltschaft in Duisburg , aus der Kommunalpolitik und dem Landesamt für Verfassungsschutz hier öffentlich gemacht werden sollen. Der kritische Umgang mit der Überlieferungspraxis der Sicherheitsbehörden ist auch für unser Projekt eine zentrale Herausforderung, weil es eine andere Möglichkeit für die umfassende Thematisierung und Aufklärung der Themen nicht geben kann.Ein weiteres Moment stellt die Verschränkung von Archiven dar. In unserem Projekt erzählen wir Migrationsgeschichten, die deutlich machen, dass die lokale Geschichte mit der Migration von Menschen an einen neuen Ort dennoch transnational ist und bleibt. Für die Quellenerweiterung gehört daher für uns hinzu, eine transnationale Verschränkung von Archiven zu denken und ggfls. eine Recherche in Archiven außerhalb Deutschlands zu veranlassen. Das bedeutet, dass wir auch in internationalen Archiven Quellen für die Duisburger Stadtgeschichte gefunden haben.
Videographie
Das filmische Konzept basiert auf dem Grundgedanken, entlang biografischer Interviews die lokale Migrationsgeschichte Duisburgs aus einer antirassistischen Perspektive erfahrbar zu machen. Dabei sind die Interviewpartner:innen, deren Leben eng mit der Aufarbeitung rassistischer Gewalt, eigensinniger Selbstorganisation und antirassistischer Artikulationen verknüpft ist, der Ausgangspunkt unserer Arbeit. Vor diesem Hintergrund legen wir Wert darauf, den Fokus ganz auf die Interviewpartner:innen und ihre Erzählungen zu legen. Um die Berichte für die Zuschauer:innen plastisch zu machen, werden auch die physischen Reaktionen wie Gestik, Mimik, Körperhaltung oder Blicke der Interviewpartner:innen ins Bild rücken, die bei der Schilderung von persönlichen Erinnerungen erkennen lassen, mit welchen Emotionen diese einher gehen.
Gestaltung und Webdesign
Das visuelle Erscheinungsbild der Webdokumentation greift die Farbgebung der bunten Cover-Designs der Musikkassetten türkischstämmiger Musiker:innen auf, die in den 1970er- und 1980er-Jahren extrem populär waren (vgl. den Film „Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ von Cem Kaya). Einen Gegenpol zur eher fröhlichen Farbpalette bildet die Wahl der Schrift „Arbeiter Neue“ als Display-Font. Die vom Typografen Murathan Biliktü gestaltete Schrift fängt die Erfahrung der Desorientiertheit und Fremdheit seines Großvaters in einer unbekannten, industriellen Umgebung der 1960er Jahren ein. „It's the German signs in the eyes of the guest workers and the cramped town constructed of pipes and cables that they live in“, schreibt Biliktü zur Gestaltung der „Arbeiter Neue“ – „es sind die deutschen Zeichen in den Augen der Gastarbeitenden und die beengte Stadt aus Rohren und Kabeln, in der sie leben“.
Cema in Duisburg
Die Figur Cema führt durch diese Webdokumentation und begleitet die Nutzer:innen durch die Recherchen. Sie, ihre Geschichte, ihre Freund:innen und Familienangehörigen werden im Prolog vorgestellt und in die Duisburger Stadtgesellschaft biografisch eingebettet. Sie ist Duisburger:in. Sie und ihr Umfeld repräsentieren die vielstimmige Duisburger Stadtgesellschaft. Für die Nutzer:innen stellt sie somit das Identifikationsangebot dar. Etwas Cema ist in jeder Person vorhanden. In den einzelnen thematischen Episoden taucht sie immer wieder in unterschiedlichen Illustrationen als Fragende und Zeitzeug:in des historischen Geschehens auf. Die charakteristische Figur ist auch in allen weiteren Publikationen und Produkten des Projektes ein „Anderes Duisburg“ visualisiert. Sie trägt so zur Wiedererkennbarkeit des Projekts bei und hilft, das Projekt in den Stadtraum hineinwirken lassen. Cema gewinnt Herzen und trifft auf offene Ohren.