Konzept

Anforderungen

an einen digitalen und multi­direktionalen Erinnerungs- und Archivraum in der Migrations­gesellschaft

Die Idee zu Ein Anderes Duisburg. Eine Webdokumentation über Rassismus, Migration und Solidarität ist in Auseinandersetzung und als Teil der neueren rassismuskritischen Erinnerungs- und Geschichtsbewegung entstanden . Sie ist der Duisburger Tiefenblick auf den Umbruch und eine Antwort auf die didaktischen Anforderungen innerhalb der Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur, die Deutschlands Selbstverständnisses als Migrationsgesellschaft Rechnung trägt. Für einen digitalen Erinnerungs- und Archivraum, für eine neue Stadtgeschichte, ergeben sich deshalb besondere Herausforderungen:

Diese Illustration zeigt eine moderne Aufnahmeumgebung mit einem blauen Stuhl als zentrales Motiv vor einer weißen Leinwand, umgeben von Video- und Fotoausrüstung, einschließlich Kameras auf Stativen, Beleuchtungsausrüstung und Audioaufnahmegeräten.

 

Digitale Archivierung und Quellenerschließung

Die Dokumentation vereint Elemente von Archivarbeit, Oral-History-Interviews und Sammlungserweiterung durch weitere Quellenerschließung mit digitalen Instrumenten der historischen Bildungsvermittlung und audio-visuellem Storytelling. Die Quellensammlung speist sich aus  neuen historischen Materialien, sowohl aus Privatbeständen von Duisburger:innen, als auch aus weiteren Archiven. Wir können davon ausgehen, dass sich noch viele weitere Quellen, Objekte und Materialien in privatem Besitz befinden. Die Hoffnung ist, noch zahlreiche Quellen im Laufe des Projekts zu erschließen. Mit der Webdokumentation bilden wir eine neue Archivsammlung, in der die Stadtgeschichte rassismuskritisch erzählt wird und rassismus- und antisemitismuskritische Perspektiven entwickelt werden.  
Der in dieser Webdoku benutzte Archivbegriff deckt sich nicht mit dem modernen Archivbegriff der offiziellen Archive, somit auch nicht mit dem des Stadtarchivs Duisburg. Die Hauptaufgabe eines Archivs ist die sichere und langfristige Aufbewahrung und Überlieferung von historischen Quellen, mit der die Geschichte des Trägers, der Institution oder der Behörde für spätere Generationen und für die Forschung zur Verfügung gestellt werden kann. Zu den Aufgaben gehört es auch, dass eine Entscheidung über "überlieferungswerte" Akten getroffen wird, denn nicht jede ausgehändigte schriftliche und auch digitalisierte Akte kann „überliefert" werden, da auch das Archiv Grenzen hat. Unsere Webdokumentation hingegen dokumentiert und erzählt auf Basis wissenschaftlicher Forschungsmethoden und -fragen schon selbst eine Geschichte. Dennoch werden erhobene Quellen digitalisiert zur Verfügung gestellt, so dass sie Nutzer:innen unter Angabe der Signatur der Quelle frei für eigene Arbeitszwecke nutzen können. Die Digitalisierung von Quellen wiederum hat allgemein die Überlieferungspraxis archivarischer Arbeit vor neue Herausforderungen gestellt. In unserer Webdokumentation speichern wir die digitalisierten Dokumente auf einem Server und damit ist zu diesem Zeitpunkt die Frage der langfristigen und nachhaltigen Sicherung nicht geklärt.

 

Öffentliche Geschichte als Empowerment zur Selbstreflexion und Sensibilisierung

Die Quellen in der Doku sind für die Nutzer:innen frei verfügbar und anwendbar: „Ein Anderes Duisburg“ ist ein lebendiges Archiv. Ein Archiv, das nicht nur Stadtgeschichte und Erinnerungskultur mit Materialien, Quellen, Interviews, Fotos und Texten per Mausklick zur Verfügung stellt, sondern auch mit Illustrationen und Storytelling-Methoden arbeitet, lokal auf Bildungsveranstaltungen vermittelt und digital als Webdokumentation zur Verfügung steht. Mit diesem innovativen Projekt antwortet das Projektteam auf die neuen Perspektiven der digitalen Bildungsvermittlung. Quellen können in der Webdokumentation in großem Umfang zugänglich gemacht und Geschichten erzählt werden. 

 

Oral- History-Interviews

Mit Oral-History-Interviews entstehen neue Quellen für die Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur. Videographische Erinnerungsinterviews erzählen eindringlich von persönlichen Migrations- und Rassismuserfahrungen, aber auch von solidarischen Kämpfen um Partizipation, gleiche Rechte und Demokratisierung. Die professionell von einem Filmteam geführten Erinnerungsinterviews sind das Herz der Doku und stellen die zentrale Quelle für die einzelnen Episoden dar. Sie rücken Menschen hautnah ins Bild, die ihre Geschichten in verschiedenen Sprachen erzählen. Zeitzeug:innen, die die ersten Anwerbejahrzehnte erlebten,  haben bereits ein hohes Lebensalter erreicht, sodass “die Uhr tickt“, um ihre lebensbiografischen Zeugnisse noch rechtzeitig zu sammeln. Diese Zeitzeugnisse sind auch deshalb von hohem Wert, weil die Behörden in den 1950er und 1980er Jahren historisch relevantes Material kaum systematisch erfasst haben.

Die sensible Interview-, Dreh- und Schneidetechnik schützt die interviewten Personen. Worin besteht diese besondere Sensibilität? Die Oral-History-Interviews wurden über eine biografisch-narrative Gesprächsführung in standardisierten Settings in der DenkStätte des Zentrums für Erinnerungskultur in Duisburg gefilmt. Eine biografisch-narrative Gesprächsführung in einem Forschungsinterview zielt darauf ab, dass die interviewte Person in der Interkation mit der Interviewer:in einen offen Erzählraum erhält und keine Dialoge in der Interaktion stattfinden. Die interviewende Person hat im Voraus mit den Zeitzeug:innen ein Aufklärungsgespräch über Inhalt, Form und die Themenkomplexe geführt, das Einverständnis eingeholt und Organisatorischen besprochen. Für die Interviews wurden offen Leitfragen erstellt, um historische Ereignisse und die Erinnerungen der Interviewteilnehmenden zu befragen. Zuvor wurde auch besprochen, in welche Sprache die Interviews geführt werden sollen. Wir haben Interviews in diversen Sprachen geführt und somit auch mit Übersetzungen und Übersetzer:innen gearbeitet.

Quellen, die das Erfahrungswissen von Menschen sammeln, haben in ihrer historiographischen Bedeutung zugenommen. Diese Formen der Quellen liefern Zugang zur Alltagsgeschichte und Mikrogeschichte. Dazu zählen Oral-History-Interviews, die Erfahrungswissen, subjektive Perspektiven und Erinnerungen, Wahrnehmungen und Handlungen, Interpretationen und persönliche Schicksale beinhalten. Aus rassismuskritischer Perspektive spielt diese Perspektive für die Webdokumentation eine besondere Rolle, da vergessene und bisher nicht öffentlich erinnerte Ereignisse und Betroffene von Rassismus als sprechende Akteur:innen von Bedeutung sind

Im Anschluss an die durchschnittlich 2-stündigen Video-Interviews wurden kurze Filmclips für die Webdokumentation geschnitten, mit denen die Episoden maßgeblich auch inhaltlich strukturiert werden. Mit Hilfe von zeithistorischen Dokumenten, Texten und Analysen werden die jeweiligen Themen der Episode und die Film-Clips multimedial ergänzt. Es entsteht ein multimediales Archiv.

 

Quellenerhebung und Quellenkritik

 

Videographie

Das filmische Konzept basiert auf dem Grundgedanken, entlang biografischer Interviews die lokale Migrationsgeschichte Duisburgs aus einer antirassistischen Perspektive erfahrbar zu machen. Dabei sind die Interviewpartner:innen, deren Leben eng mit der Aufarbeitung rassistischer Gewalt, eigensinniger Selbstorganisation und antirassistischer Artikulationen verknüpft ist, der Ausgangspunkt unserer Arbeit. Vor diesem Hintergrund legen wir Wert darauf, den Fokus ganz auf die Interviewpartner:innen und ihre Erzählungen zu legen. Um die Berichte für die Zuschauer:innen plastisch zu machen, werden auch die physischen Reaktionen wie Gestik, Mimik, Körperhaltung oder Blicke der Interviewpartner:innen ins Bild rücken, die bei der Schilderung von persönlichen Erinnerungen erkennen lassen, mit welchen Emotionen diese einher gehen.

 

Gestaltung und Webdesign

Das visuelle Erscheinungsbild der Webdokumentation greift die Farbgebung der bunten Cover-Designs der Musikkassetten türkischstämmiger Musiker:innen auf, die in den 1970er- und 1980er-Jahren extrem populär waren (vgl. den Film „Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod“ von Cem Kaya). Einen Gegenpol zur eher fröhlichen Farbpalette bildet die Wahl der Schrift „Arbeiter Neue“ als Display-Font. Die vom Typografen Murathan Biliktü gestaltete Schrift fängt die Erfahrung der Desorientiertheit und Fremdheit seines Großvaters in einer unbekannten, industriellen Umgebung der 1960er Jahren ein. „It's the German signs in the eyes of the guest workers and the cramped town constructed of pipes and cables that they live in“, schreibt Biliktü zur Gestaltung der „Arbeiter Neue“ – „es sind die deutschen Zeichen in den Augen der Gastarbeitenden und die beengte Stadt aus Rohren und Kabeln, in der sie leben“.

 

Cema in Duisburg

Die Figur Cema führt durch diese Webdokumentation und begleitet die Nutzer:innen durch die Recherchen. Sie, ihre Geschichte, ihre Freund:innen und Familienangehörigen werden im Prolog vorgestellt und in die Duisburger Stadtgesellschaft biografisch eingebettet. Sie ist Duisburger:in. Sie und ihr Umfeld repräsentieren die vielstimmige Duisburger Stadtgesellschaft. Für die Nutzer:innen stellt sie somit das Identifikationsangebot dar. Etwas Cema ist in jeder Person vorhanden. In den einzelnen thematischen Episoden taucht sie immer wieder in unterschiedlichen Illustrationen als Fragende und Zeitzeug:in des historischen Geschehens auf. Die charakteristische Figur ist auch in allen weiteren Publikationen und Produkten des Projektes ein „Anderes Duisburg“ visualisiert. Sie trägt so zur Wiedererkennbarkeit des Projekts bei und hilft, das Projekt in den Stadtraum hineinwirken lassen. Cema gewinnt Herzen und trifft auf offene Ohren.

Illustration einer Person, die auf einem Karton sitzt und eine Zeitung mit dem Titel 'GEWÜRZ' liest. Sie trägt einen blauen Mantel, schwarze Hosen und grüne Turnschuhe. Um ihren Hals liegt ein lebendiges, gemustertes Tuch. Um sie herum liegen verstreute Gegenstände: ein Mikrofon, Kopfhörer, eine Kassette mit Bildern und Blätter Papier, was auf einen kreativen Tag oder Umzug hindeutet.