Erinnerungskultur

Auf dem Weg

in eine rassismus- und anti­semitismus­kritische Erinnerungs­kultur in der Migrations­gesell­schaft

Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Deutschland sind im Umbruch. Auch ihre Inhalte und Formen sind im Wandel.   Das Erinnern gegen rechte Gewalt, Rassismus und Antisemitismus erhielt mit der Selbstenttarnung des NSU einen neuen und konkreten Bezugspunkt; und die Betroffenen der jüngsten rechtsextremen Gewalt selbst begannen, ihre Gefühle, Perspektiven und Kritik offen zu formulieren.  

Die Anfänge dieser Entwicklung liegen allerdings schon weiter zurück. Bereits seit Ende der 1990er Jahren haben sich Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt dafür eingesetzt, dass über rechte Gewalt und institutionellen Rassismus gesprochen und an die Opfer rechter Gewalt erinnert wird. 

Ibrahim Arslan etwa vermittelt als Überlebender der rassistischen Brandanschläge 1992 in Mölln1 seit vielen Jahren zwischen anderen Betroffenen rechter Gewalt, Zivilgesellschaft, Medien und Politik. Seine Forderung lautet, dass es einer neuen politischen Erinnerungskultur bedarf, die die Betroffenen nicht mehr als Statist:innen des Gedenkens behandelt, sondern aktiv in das Gedenken und in die politisch-bildnerische Vermittlungsarbeit der Themen einbezieht. Diese, bis zur Selbstenttarnung des NSU ungehörten, leisen Bemühungen verbanden sich seit 2011 mit all den Stimmen, die nun laut wurden. Sie gehörten auch Betroffenen, die ihre Angehörigen schon in den 1980er- und 1990er-Jahren verloren hatten, wie etwa Gülistan Avcı, deren Mann, Ramazan Avcı, 1985 in Hamburg von Neonazis zu Tode geprügelt wurde.

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Der zivilgesellschaftliche Beirat.

In unterschiedlichen Städten verankert und bundesweit vernetzt entwickelte sich seit den 2010er Jahren eine neue zivilgesellschaftliche Geschichts- und Erinnerungsbewegung. Bis die Forderungen allerdings offiziell in Leitlinien, Maßnahmen und Förderprogrammen ankamen, vergingen noch weitere Jahre. Erst nach den rechtsterroristischen Attentaten in Halle (2019) und Hanau (2020) sowie den weltweiten Black-Lives-Matter Protesten, die nach der Ermordung des Schwarzen US-Amerikaners George Floyd Rassismus anprangerten, verschoben sich auch in den Institutionen sichtbar Strukturen. 

Ein erstes aussagekräftiges Beispiel hierfür ist die Rede 2021 von Bundespräsident Walter Steinmeier zum Festakt des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens mit der Türkei. Die Rede stand im Licht einer neuen Erinnerungspraxis. In der Rückschau wurde Reue um Versäumtes eingeräumt. Fehler in der deutschen Migrationspolitik, Rassismus und menschenverachtende Nutzenkalküle der Anwerbepolitik wurden benannt und beklagt. Nach der so langen Amnesie, über institutionellen Rassismus in Deutschland zu sprechen, kündigt diese Rede eine wichtige Veränderung an, wenn mit dem Amt und der Stimme des Bundespräsidenten die besagten Problemfelder konsequent angesprochen werden.2  Das Positionspapier des Deutschen Städtetags zur Erinnerungskultur kommt als zweites Beispiel hinzu.3  2023 hat sich der freiwillige Zusammenschluss von kreisfreien und kreisangehörigen Städten in Deutschland vorgenommen, dass die kommunalen Selbstverwaltungen und Gedenkstätten neben der etablierten Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus auch die Themen um Rassismus, rechte Gewalt und Migrationsgeschichte als Herausforderungen für die Zukunft der Erinnerungskultur behandeln sollten. Die damit vor allem für die Bildungsarbeit geforderte Weitung der Perspektive und die Verschiebung des Blickwinkels hin zu den konkret von Rassismus Betroffenen war in der politischen Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt aber schon längst vollzogen. In Hörweite der NSU-Prozesse gegen das rechtsterroristische NSU-Netzwerk am Münchener Oberlandesgericht, markierten die neuen Akteur:innen seit den 2010er Jahren zentrale Anforderungen für einen rassismuskritischen Erinnerungs- und Archivraum.

Welche Defizite innerhalb der Erinnerungskultur in Deutschland bestehen, zeigen Betroffene auf, deren Leben von rechter Gewalt und Rassismus geprägt sind. Sie fragen:

Wie kann eine multidirektionale Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung in einer Migrationsgesellschaft aussehen, die sowohl rassistische, antiziganistische, antisemitische und postkoloniale Kontinuitäten sichtbar macht als auch zivilgesellschaftliche Widerstände laut werden lässt? Wie sollte eine Geschichtsvermittlung aussehen, welche die Gruppen, die von Rassismen betroffen sind, auch erreicht und ihnen ihre eigenen Geschichten auch wieder zurückgibt? Welche Geschichten müssen geschrieben, welches Wissen wie gemeinsam geschaffen werden?

Globalgeschichte, Migration, postkoloniale Kontinuitäten & Industriekultur in Duisburg

Seit der Industrialisierung ist die Duisburger Stadtgeschichte – insbesondere durch den größten Binnenhafen der Welt – von weltweiten Handelsverflechtungen und Migrationsbewegungen geprägt. Im 17. Jahrhundert ist der Hafen zentraler Umschlagplatz für etwa Tabak und Zucker aus dem kolonialisierten Raum. Duisburger Firmen wie Böninger verdienten über Jahrhunderte an der kolonialen Ausbeutung. Heute ist der Duisburger Binnenhafen Endpunkt der "Neuen Seidenstraße"– einem interkontinentalen Infrastrukturprojekt, das, ähnlich wie die historische Seidenstraße, global verbindet und lokale Transit- und Handelsräume schafft. Die Arbeitsmigration aus ost-, süd- und außereuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass heute jede zweite Person in Duisburg eine Migrationsgeschichte hat.4

Eine Gruppe Menschen steht um eine Gedenktafel mit Blumen in der Hand. Vor der Gedenktafel steht ein Blumengesteck. Eine Person reinigt die Tafel.

Migrationsgeschichte als geteilte Stadtgeschichte

Das Projekt "Ein Anderes Duisburg. Migration erinnern – Antirassistische Städte schaffen" vereint Geschichtsforschung, Dokumentation und zivilgesellschaftliche Bildungs- und Vermittlungsarbeit. Es knüpft an Erkenntnisse der kritischen Migrations-, Rassismus-, Antisemitismus-, Antiziganismus- und Postkolonialismusforschung an und begibt sich auf Spurensuche: Im Fokus stehen Lebensgeschichten und Erinnerungsnarrative von migrantisierten und rassismusbetroffenen Menschen. Das Ziel ist, die Geschichte der Stadt Duisburg als multidirektionale Migrationsgeschichte5   neu zu erzählen, in der wir über Rassismen, Antiziganismus und Antisemitismus sprechen.6 Eine multidirektionale Perspektive auf die Geschichte einzunehmen, bedeutet einzufordern, auf Basis globaler Menschenrechte und einer multidirektionalen Erinnerungskultur heute zusammen zu kommen, um über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens in einer diversen Stadt zu verhandeln.Es bedeutet für eine unteilbare und offene Gesellschaft einzustehen; gerade deshalb, und so schwer es auch fällt, ins Gesicht der vielschichtigen Gewalterfahrungen und Unrechtsgeschichten blicken zu können.

Es bedeutet, die Shoa und die NS-Zeit weiterhin engagiert aufzuarbeiten, dabei aber auch den lange ignorierten Porajmos, den Völkermord an Roma und Sinti während der NS-Zeit, sowie seine Vor- und Nachgeschichte sichtbar zu machen, um den Antiziganismus heute zu verstehen. Eine erweiterte Erinnerungskultur verlangt darüber hinaus, über den Kolonialismus und die postkolonialen, -globalen Ungleichheiten aufzuklären, um die langen historischen Hintergründe rassistischer Gewalt zu erhellen und den strukturellen Rassismus gegen migrantisierte Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Wirtschaftswunder „Deutschland“ zu erklären und offen zu benennen. 

Das würdevolle Gedenken an Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt ist nach wie vor hart umkämpft. Für die Mehrheitsgesellschaft ist es eine schwierige und bittere Erkenntnis, dass trotz der langen und erfolgreichen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, weiterhin rassistische Muster tief in den Denkstrukturen der Gesellschaft verankert sind. Die damit zusammenhängende inkonsequente strafrechtliche Verfolgung und Benennung rechter Gewalt ist der Grund dafür, dass bislang zu wenig an rassistische Gewaltopfer nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erinnert wurde. 

Anschaulich wird die Bedeutung des Gedenkens an Betroffene rassistischer Gewalt am Beispiel von Do Moi. Sie ist die Mutter von Đỗ Anh Lân. Er und Nguyễn Ngọc Châu starben am 22. August 1980 an den Folgen eines rechtsextremen Brandanschlags auf ein Geflüchtetenwohnheim in Hamburg. Der Mord an den Vietnamesen ist der erste offiziell dokumentierte rechte Mord an Migrant:innen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik. Do Moi betrauerte nicht nur über 34 Jahre ihren Sohn, den sie durch Menschenhass verlor; sie kritisiert auch, dass es lange kein öffentliches Gedenken gab und sie allein trauern musste. Erst 2014 gründete sich eine zivilgesellschaftliche Initiative, die gegen das Vergessen für ein öffentliches Gedenken an der Seite der Angehörigen einsteht.7 Ähnlich fühlte Familie Satır. Auch sie fragt: Warum wurde der Brandanschlag in Duisburg 1984 vergessen?

Mit einer multidirektionale Erinnerungskultur finden Geschichten, Perspektiven und Lebensbiografien Eingang in die städtische Erinnerungskultur, die bisher weder gehört noch gesammelt wurden.8  "Ein Anderes Duisburg" erschließt neue Quellen und betreibt Quellenkritik, um aus der Perspektive von Migrant:innen sprechen zu können. Einen wichtigen Beitrag leisten dabei Zeitzeug:innen, die ihre Keller und Dachböden öffnen und ihre ganz persönliche Erfahrung in das Projekt einbringen. Diese Funde erzählen von Gewalt, Flucht, vom europäischen Grenzregime, von institutioneller Diskriminierung und strukturellem Rassismus. Diese Duisburger Quellen dokumentieren aber auch, wie sich Migrant:innen in Duisburg gegen Rassismus und für gleiche Rechte, Demokratisierung, politische Partizipation und Anerkennung organisiert und gekämpft haben. Die eigensinnige Geschichte des Antirassismus in Duisburg ist eine vielschichtige, vielstimmige und vielsprachige Geschichte – sie ist Teil der Stadt der Vielen an Rhein und Ruhr!

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    Am 23.11.1992 wurden mehrere Häuser im schleswig-holsteinischen Mölln im wiedervereinten Deutschland mit Brandsätzen in Feuer gesteckt. Im Haus in der Mühlenstraße starben die 10-jährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayse Yilmaz. Ihre Großmutter, die 51-jährige Bahide Arslan, verlor ebenfalls ihr Leben beim Rettungsversuch der beiden Mädchen. Ihren Enkel, Ibrahim Arslan, wickelte Bahide Arslan zuvor noch in nasse Tücher. So konnte sie sein Leben retten. 

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    Die Rede ist unter folgendem Link online zu finden: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975954/1965960/2c7d75d1a44174728a785d77e29dc804/125-2-bpr-anwerbeabkommen-tuerkei-data.pdf?download=1 (z.a. 15.12.2023).

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    https://www.staedtetag.de/files/dst/docs/Publikationen/Positionspapiere/2023/positionspapier-erinnern-ist-zukunft-2023.pdf (z.a. 12.01.2024).

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    Neuere Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaften und hier insbesondere in der Oral-History-Forschung entwickeln Ansätze und Forschungsperspektiven, um aus der biografieorientierten Arbeit mit Migrant:innen heraus, eine intersektionale Industriegeschichte für das Ruhrgebiet schreiben zu können. Siehe hierzu Heft 2. von BIOS zum Schwerpunkt „(Post-)Industrial Memories. Oral History and Structural Change”. Dort insbesondere die Beiträge der Herausgeber:innen der Schwerpunktausgabe, Stefan Moitra und Katarzyna Nogueira. Eine konkrete Übersicht über den Bestand, die Überlieferungsproblematik von Quellen zur Migrationsgeschichte in kommunalen Archiven und eine Dokumentationsstrategie zur Migrationsgeschichte im Stadtarchiv Duisburg bietet der Artikel von Andreas Pilger „Die Entwicklung einer Dokumentationsstrategie zur Migrationsgeschichte im Stadtarchiv Duisburg“.

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    Der Literaturwissenschaftler und Inhaber des Samuel-Goetz-Lehrstuhls für Holocaust-Studien an der University of California hat 2009 sein Konzept des multidirektionalen Gedenkens in seinem Buch „Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonisation“ vorgestellt. Rothberg erarbeitet sein Konzept entlang der Frage, wie das Holocaustgedenken in Zeiten der Dekolonisierung stattfinden kann und sucht nach Verschränkungen von Quellen, Analysen und Erinnerungen an verschiedene Menschheitsverbrechen und Genozide. Rothberg gelingt es, eine Haltung aufzubauen, die Konkurrenzen vermeidet und dennoch Singularitäten der Verbrechen anerkennt. Vielmehr gilt es für ihn, eine solidarische und globale Erinnerungskultur zu erschaffen. Die deutsche Übersetzung des Buches ist 2021 erschienen: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. A. d. Engl. v. Max Henninger. Metropol: Berlin. Eine Leseprobe findet sich auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/rothberg_bpb_LESEPROBE.pdf (z.a.: 10.08.2023).

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    2023 erschien der Sammelband von Andreas Pilger und Robin Richterich zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Die Autor:innen arbeiten Dissonanzen in den erinnerungskulturellen Perspektiven heraus, um die Heterogenität in der Erinnerungskultur aufzuzeigen und dem scheinbaren Konsens auf die Schliche zu kommen: Andreas Pilger und Robin Richterich (2023): Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt. Dissonantes Erinnern an den Nationalsozialismus und sein Folgen, Frankfurt/New York: campus.      
    Eine Monografie über den Einsatz von Zwangsarbeiter:innen in Duisburg mit Fotos und einer Liste der regionalen Zwangsarbeiterlager findet sich bei Michael A. Kanther (2004): Zwangsarbeit in Duisburg 1940 – 1945,Duisburg: Mercator-Verlag.

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    Vgl. Vanessa Vu (2018): Warum hat Deutschland Do Anh Lan vergessen? In: „Die Zeit“. 21. Juni 2018.

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    Siehe hierzu auch die neuesten Publikationen, die die Frage erörtern, wie eine vielsprachige Erinnerungskultur auf Basis einer kritischen Migrationsgeschichte geschrieben werden kann, in der bisher ungehört gebliebene Narrative und Geschichten erzählt werden. Die Autor:innen in dem Sammelband „Erinnern Stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“ von Lydia Lierkes und Massimo Perinelli gehen dieser Frage mit Fokus auf den Mauerfall aus der Perspektive migrantischer und jüdischer Erinnerungen und Geschichten nach. Liest man die Geschichten von jüdischen, migrantisierten und von Rassismus betroffenen Menschen und ihre Gewalterfahrungen im Zuge des neuen Nationalismus nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, wird deutlich, dass es einer dringenden Revision der Erzählung der „friedlichen Wiedervereinigung“ bedarf.      
    Peggy Piesche blickt in ihrem Band „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost“ ebenfalls auf die Wendejahre und rekonstruiert anhand von acht biographischen Portraits von aktivistischen Frauen aus der Sinti- und Roma-Community aus West-Berlin, aus der Schwarzen und PoC-Bewegung und aus der queer-feministischen Bewegung, auf ein wichtiges, bisher unsichtbares Kapitel der Bewegungsgeschichte. Eindringlich beschreiben die Autor:innen aus der Erfahrungsperspektive Kämpfe, Rückschläge und neue Suchbewegungen in der Bewegungspolitik. Den Band zeichnen neben den Portraits weitere Materialien, wie Fotografien, Plakate und historische Dokumente aus.