Hintergrund

Erinnerungskultur

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Der zivilgesellschaftliche Beirat.

Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Deutschland sind im Umbruch. Kulturinstitutionen, Verwaltungen und Politik setzen sich mit der Kontroverse auseinander, wem im kollektiven Gedächtnis gedacht und erinnert wird und wessen Geschichten nicht geschrieben wurden. Seit den rechtsterroristischen Anschlägen in Hanau und Halle, den weltweiten Black-Lives-Matter-Protesten und der Selbstenttarnung des rechtsterroristischen NSU ist deutlich geworden, dass institutioneller Rassismus, rechtsextreme Gewalt, Antiziganismus, Antisemitismus und Diskriminierung zentrale Themen für die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart sein müssen. Welche Defizite innerhalb der Erinnerungskultur in Deutschland bestehen, zeigen Betroffene auf, deren Leben von rechter Gewalt und Rassismus geprägt sind. Sie fragen:

Wie kann eine multidirektionale Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung in einer Migrationsgesellschaft aussehen, die sowohl rassistische, antiziganistische, antisemitische und postkoloniale Kontinuitäten sichtbar macht als auch zivilgesellschaftliche Widerstände laut werden lässt? Wie sollte eine Geschichtsvermittlung aussehen, welche die Gruppen, die von Rassismen betroffen sind, auch erreicht und ihnen ihre eigenen Geschichten auch wieder zurückgibt? Welche Geschichten müssen geschrieben, welches Wissen wie gemeinsam geschaffen werden?

Globalgeschichte, Migration, postkoloniale Kontinuitäten & Industriekultur in Duisburg

Seit der Industrialisierung ist die Duisburger Stadtgeschichte – insbesondere durch den größten Binnenhafen der Welt – von weltweiten Handelsverflechtungen und Migrationsbewegungen geprägt. Im 17. Jahrhundert ist der Binnenhafen zentraler Umschlagplatz für etwa Tabak und Zucker aus dem kolonialisierten Raum. Duisburger Firmen wie Böninger verdienten über Jahrhunderte an der kolonialen Ausbeutung. Heute ist der Duisburger Binnenhafen Endpunkt der "Neuen Seidenstraße"– einem interkontinentalen Infrastrukturprojekt, das, ähnlich wie die historische Seidenstraße, global verbindet und lokale Transit- und Handelsräume schafft. Die Arbeitsmigration aus ost-, süd- und außereuropäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass heute jede zweite Person in Duisburg eine Migrationsgeschichte hat.1

Eine Gruppe Menschen steht um eine Gedenktafel mit Blumen in der Hand. Vor der Gedenktafel steht ein Blumengesteck. Eine Person reinigt die Tafel.

Migrationsgeschichte als geteilte Stadtgeschichte

Das Projekt "Ein Anderes Duisburg. Migration erinnern – Antirassistische Städte schaffen" vereint Geschichtsforschung, Dokumentation und zivilgesellschaftliche Bildungs- und Vermittlungsarbeit. Es knüpft an Erkenntnisse der kritischen Migrations-, Rassismus-, Antisemitismus-, Antiziganismus- und Postkolonialismusforschung an und begibt sich auf Spurensuche: im Fokus stehen Lebensgeschichten und Erinnerungsnarrative von migrantisierten und rassismusbetroffenen Menschen. Das Ziel ist, die Geschichte der Stadt Duisburg als multidirektionale Migrationsgeschichte2 neu zu erzählen, in der wir über Rassismen, Antiziganismus und Antisemitismus sprechen3. Eine multidirektionale Perspektive auf die Geschichte einzunehmen, bedeutet einzufordern, auf Basis globaler Menschenrechte und einer multidirektionalen Erinnerungskultur heute zusammen zu kommen zu können, um über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Zusammenlebens in einer diversen Stadt zu verhandeln; Es bedeutet für eine unteilbare und offene Gesellschaft einzustehen. Gerade deshalb, und so schwer es auch fällt, ins Gesicht der vielschichtigen Gewalterfahrungen und Unrechtsgeschichten blicken zu können: Es bedeutet, die Shoa und die NS-Zeit aufzuarbeiten; um den Kolonialismus und die postkolonialen-globalen Ungleichheiten zu wissen; den lange ignorierten Porajmos, den Völkermord an Roma und Sinti während der NS-Zeit, aufzuklären und den Antiziganismus heute zu verstehen sowie die rassistische Gewalt und den strukturellen Rassismus gegen migrantisierte Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg im Wirtschaftswunder „Deutschland“ zu benennen.

Das würdevolle Gedenken an Opfer rassistischer, rechter und antisemitischer Gewalt ist nach wie vor hart umkämpft. Die inkonsequente strafrechtliche Verfolgung und Benennung rechter Gewalt ist die andere Seite der Medaille zum fehlenden öffentlichen Gedenken. Zu wenig wurde bisher an rassistische Gewaltopfer nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland erinnert. 

Anschaulich wird die Bedeutung des Gedenkens an Betroffene rassistischer Gewalt am Beispiel von Do Moi. Sie ist die Mutter von Đỗ Anh Lân. Er und Nguyễn Ngọc Châu starben am 22. August 1980 an den Folgen eines rechtsextremen Brandanschlags auf ein Geflüchtetenwohnheim in Hamburg. Der Mord an den Vietnamesen ist der erste offiziell dokumentierte rechte Mord an Migrant:innen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Bundesrepublik. Do Moi betrauerte nicht nur über 34 Jahre, ihren Sohn durch Menschenhass verloren zu haben, sondern auch, dass es lange kein öffentliches Gedenken gab und sie allein trauern musste. Erst 2014 gründete sich eine zivilgesellschaftliche Initiative, die gegen das Vergessen für ein öffentliches Gedenken an der Seite der Angehörigen einsteht.4 Ähnlich fühlte Familie Satır: Warum wurde der Brandanschlag in Duisburg 1984 vergessen?

Mit einer multidirektionale Erinnerungskultur finden Geschichten, Perspektiven und Lebensbiografien Eingang in die städtische Erinnerungskultur, die bisher weder gehört noch gesammelt wurden.5 "Ein Anderes Duisburg" erschließt somit neue Quellen und betreibt Quellenkritik, um aus der Perspektive von Migrant:innen sprechen zu können. Einen wichtigen Beitrag leisten dabei Zeitzeug:innen, die ihre Keller und Dachböden öffnen und ihre ganz persönliche Erfahrung in das Projekt einbringen. Diese Funde erzählen von Gewalt, Flucht, vom europäischen Grenzregime, von institutioneller Diskriminierung und strukturellem Rassismus. Diese Duisburger Quellen dokumentieren aber auch, wie sich Migrant:innen in Duisburg gegen Rassismus und für gleiche Rechte, Demokratisierung, politische Partizipation und Anerkennung organisiertund gekämpft haben. Die eigensinnige Geschichte des Antirassismus in Duisburg ist eine vielschichtige, vielstimmige und vielsprachige Geschichte – sie ist Teil der Stadt der Vielen an Rhein und Ruhr!

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    Neuere Diskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaften und hier insbesondere in der Oral-History-Forschung entwickeln Ansätze und Forschungsperspektiven, um aus der biographieorientierten Arbeit mit Migrant:innen heraus, eine intersektionale Industriegeschichte für das Ruhrgebiet schreiben zu können. Siehe hierzu Heft 2. von BIOS zum Schwerpunkt „(Post-)Industrial Memories. Oral History and Structural Change”. Dort insbesondere die Beiträge der Herausgeber:innen der Schwerpunktausgabe, Stefan Moitra und Katarzyna Nogueira. Eine konkrete Übersicht über den Bestand, die Überlieferungsproblematik von Quellen zur Migrationsgeschichte in kommunalen Archiven und eine Dokumentationsstrategie zur Migrationsgeschichte im Stadtarchiv Duisburg bietet der Artikel von Andreas Pilger „Die Entwicklung einer Dokumentationsstrategie zur Migrationsgeschichte im Stadtarchiv Duisburg“. 

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    Der Literaturwissenschaftler und Inhaber des Samuel-Goetz-Lehrstuhls für Holocaust-Studien an der University of California hat 2009 sein Konzept des multidirektionalen Gedenkens in seinem Buch „Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonisation“ vorgestellt. Rothberg erarbeitet sein Konzept entlang der Frage, wie das Holocaustgedenken in Zeiten der Dekolonisierung stattfinden kann und sucht nach Verschränkungen von Quellen, Analysen und Erinnerungen an verschiedene Menschheitsverbrechen und Genozide. Rothberg gelingt es, eine Haltung aufzubauen, die Konkurrenzen vermeidet und dennoch Singularitäten der Verbrechen anerkennt. Vielmehr gilt es für ihn, eine solidarische und globale Erinnerungskultur zu erschaffen. Die deutsche Übersetzung des Buches ist 2021 erschienen: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. A. d. Engl. v. Max Henninger. Metropol: Berlin. Eine Leseprobe findet sich auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/rothberg_bpb_LESEPROBE.pdf (zuletzt abgerufen: 10.08.2023).

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    2023 erschien der Sammelband von Andreas Pilger und Robin Richterich zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg. Die Autor:innen arbeiten Dissonanzen in den erinnerungskulturellen Perspektiven heraus, um die Heterogenität in der Erinnerungskultur aufzuzeigen und dem scheinbaren Konsens auf die Schliche zu kommen: Andreas Pilger und Robin Richterich (2023): Umkämpft, verhandelt, ausgegrenzt. Dissonantes Erinnern an den Nationalsozialismus und sein Folgen, Frankfurt/New York: campus. 
    Eine Monografie über den Einsatz von Zwangsarbeiter:innen in Duisburg mit Fotos und einer Liste der regionalen Zwangsarbeiterlager findet sich bei Michael A. Kanther (2004): Zwangsarbeit in Duisburg 1940 – 1945, Duisburg: Mercator-Verlag. 

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    Vgl. Vanessa Vu (2018): Warum hat Deutschland Do Anh Lan vergessen? In: „Die Zeit“. 21. Juni 2018.

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    DSiehe hierzu auch die neuesten Publikationen, die die Frage erörtern, wie eine vielsprachige Erinnerungskultur auf Basis einer kritischen Migrationsgeschichte geschrieben werden kann, in der bisher ungehört gebliebene Narrative und Geschichten erzählt werden. Die Autor:innen in dem Sammelband „Erinnern Stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive“ von Lydia Lierkes und Massimo Perinelli gehen dieser Frage mit Fokus auf den Mauerfall aus der Perspektive migrantischer und jüdischer Erinnerungen und Geschichten nach. Liest man die Geschichten von jüdischen, migrantisierten und von Rassismus betroffenen Menschen und ihre Gewalterfahrungen im Zuge des neuen Nationalismus nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung, wird deutlich, dass es einer dringenden Revision der Erzählung der „friedlichen Wiedervereinigung“ bedarf.
    Peggy Piesche blickt in ihrem Band „Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost“ ebenfalls auf die Wendejahre und rekonstruiert anhand von acht biographischen Portraits von aktivistischen Frauen aus der Sinti- und Roma-Community aus West-Berlin, aus der Schwarzen und PoC-Bewegung und aus der queer-feministischen Bewegung, auf ein wichtiges, bisher unsichtbares Kapitel der Bewegungsgeschichte. Eindringlich beschreiben die Autor:innen aus der Erfahrungsperspektive Kämpfe, Rückschläge und neue Suchbewegungen in der Bewegungspolitik. Den Band zeichnen neben den Portraits weitere Materialien, wie Fotografien, Plakate und historische Dokumente aus.